Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa
Hennef, Germany

Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994.


Erzählungen und Mythen

Die Erschaffung des Menschen

Lha tang lhamo (Gott und Göttinn) hatten einmal eine Figur aus Gold hergestellt. Anschließend riefen sie immer: "Mi! Mi!" (Mensch) Doch die Figur antwortete nicht. Da starteten lha tang lhamo einen erneuten Versuch. Diesmal stellten sie eine Figur aus Silber her. Doch auch jetzt erhielten sie keine Antwort, als sie die Figur anriefen. In einem dritten Versuch benutzten lha tang lhamo Lehm für die Herstellung der Figur, doch blieb auch hier der Versuch, sie zum Leben zu erwecken, erfolglos. Da überlegten lha tang lhamo , woran es wohl gelegen haben mochte, daß auch dieser Versuch fehlgeschlagen war, und sie hatten die Idee, etwas Hühnermist unter den Lehm zu mischen. Und siehe da, als sie diesmal "Mi" riefen, antwortete die Figur mit: "A" (ja). (Gott und Göttinn) hatten einmal eine Figur aus Gold hergestellt. Anschließend riefen sie immer: "Mi! Mi!" (Mensch) Doch die Figur antwortete nicht. Da starteten lha tang lhamo einen erneuten Versuch. Diesmal stellten sie eine Figur aus Silber her. Doch auch jetzt erhielten sie keine Antwort, als sie die Figur anriefen. In einem dritten Versuch benutzten lha tang lhamo Lehm für die Herstellung der Figur, doch blieb auch hier der Versuch, sie zum Leben zu erwecken, erfolglos. Da überlegten lha tang lhamo , woran es wohl gelegen haben mochte, daß auch dieser Versuch fehlgeschlagen war, und sie hatten die Idee, etwas Hühnermist unter den Lehm zu mischen. Und siehe da, als sie diesmal "Mi" riefen, antwortete die Figur mit: "A" (ja).

Der Mensch war erschaffen. Weil aber die Hühner kein langes Leben haben, ist auch der Mensch sterblich. Als Kinder haben wir uns immer sehr geärgert, daß der Mensch nicht aus Gold, Silber oder Lehm geschaffen wurde, weil wir dann nicht sterblich wären.

Die Boten des Gottes

Einst schickte der Gott zwei Boten zu den Menschen: einen Stier und einen Vogel; den Vogel nennt man hier Wiedehopf. Gott sprach zum Stier: "Sag' den Menschen, sie sollten sich dreimal am Tag waschen und einmal in der Woche essen."

Zum Vogel sprach er:"Du sagst den Menschen, wenn sie sterben, würden sie wieder lebendig. Bäume werden nicht mehr grün, wenn sie einmal gefällt sind, sondern müssen sterben."

Als die beiden nun zu den Menschen kamen, berichtete der Stier: "Gott sagt, ihr sollt euch in der Woche einmal waschen und am Tag drei Mahlzeiten zu euch nehmen." "Wenn das so ist", sprachen die Menschen, "dann mußt du mit uns arbeiten, sonst werden wir nämlich nicht satt. Dreimal am Tag Essen zu beschaffen, dazu reicht unsere Arbeitskraft allein nicht aus." Also spannten die Menschen den Stier ein und nutzten ihn als Pflugtier.

Auch der Vogel warf durcheinander, was Gott ihm aufgetragen hatte, und sprach: "Gott sagt, wenn der Mensch stirbt, wird er nicht mehr lebendig. Aber die Bäume werden nicht sterben. Selbst wenn sie schon lange gefällt sind, werden immer noch grüne Zweige aus ihnen hervorsprießen."

Seit jener Zeit werden die Stiere zur Arbeit genutzt. Der Vogel Wiedehopf muß nach Süden fliegen, wenn der Frühling naht, und später im Herbst wiederum nach Norden. Das ist die Strafe für seinen falschen Bericht. Die Menschen aber müssen eines Tages sterben und werden dann nicht wieder lebendig. Sie müssen ihr Leben lang hart arbeiten, weil sie so häufig essen müssen. Aber da die Menschen ja leider nicht immer auf Gott hören, waschen sie sich nicht jede Woche.

Die sieben Geschwistersonnen

Es war einmal eine Zeit, da sieben Geschwistersonnen am Himmel schienen. Damals herrschte eine derartige Hitze, daß alles auf Erden schmolz und flüssig wurde wie Wasser. In meiner Heimat findet man heute noch Kreidesteine und Kristalle, an denen man diese Schmelzvorgänge erkennen kann.

Es gab damals kein Leben mehr auf der Erde außer einem mi und einem chuma (Tier), die es verstanden hatten, unter dem Schnee des Himalaya zu überleben. Von diesen sind wir heute die Nachkommen.

Himmel und Erde

Es gab einmal eine Zeit, in der Himmel und Erde noch nicht von einander getrennt waren. Himmel und Erde waren damals Mann und Frau, der Himmel war der Mann, und die Erde war die Frau. Ganz weit weg, am Ende der Welt, lebte ein Ungeheuer. Als dieses Ungeheuer sein großes Maul aufsperrte, wurden Himmel und Erde auseinandergerissen.

Heute haben wir Sherpa Angst, daß das Ungeheuer sein Maul wieder schließen könnte. Dann würde uns der Himmel auf den Kopf fallen, und wir wären alle platt. Das wäre das Ende der Welt.

Die Schulden der Sonne und des Mondes an Tsamatsereki

Die Sonne und der Mond mußten vor langer Zeit einmal bei dem bösen Geist Tsamatsereki Mehlschulden machen, weil sie nichts mehr zu essen hatten. Genau genommen hatten sie ein Pfund Mehl bei dem bösen Geist Tsamatsereki geliehen. Davon waren 250 Gramm für den Mond und die andere Hälfte für die Sonne.

Die Sonne und der Mond konnten ihre Schulden jedoch niemals zurückzahlen, weil der böse Geist Tsamatsereki einfach zu hohe Zinsen forderte. Dies ist der Grund, warum Sonne und Mond ohne Unterlaß arbeiten müssen, damit sie wenigstens in der Lage sind, die Zinsen zu bezahlen.

Wenn der böse Geist Tsamatsereki die Schulden abkassieren kommt, frißt er die Sonne und den Mond teilweise auf. Auf diese Weise entstehen die Sonnen- und die Mondfinsternis. Der böse Geist Tsamatsereki frißt die Sonne und den Mond teilweise auf, um sie unter Druck zu setzen. Tsamatsereki hat unter den Armen Löcher. Wenn er Teile von Sonne und Mond auffrißt, kommen diese Teile unter seinen Armen wieder hervor und kehren zur Sonne und zum Mond zurück.

Wenn es eine Sonnen- oder Mondfinsternis gibt, schreien viele Menschen im Himalaya den bösen Geist Tsamatsereki an: "Geh' weg, Tsamatsereki!" Immer wieder schreien die Menschen ganz laut, bis die Sonne oder der Mond wieder ganz frei sind. Wenn niemand der Sonne oder dem Mond hilft, besteht nämlich die Gefahr, daß der böse Tsamatsereki sie ganz auffrißt. Dann gäbe es keine Sonne und keinen Mond mehr; sie würden nie mehr scheinen.

Der Fuchs und der Bär

Ein Fuchs und ein Bär waren einmal ein sehr enges Freundschaftsbündnis eingegangen, d.h. sie bezeichneten sich als thawo (nep. mit, ein Freund). Eines Tages nun schlug der Fuchs dem Bären vor, ein großes zehntägiges Festessen zu veranstalten. Vorher aber sollten sie sich gegenseitig den After zunähen, damit sie nicht dauernd zwischendurch rausmüßten, um ihre Notdurft zu verrichten. "Komm thawo thom" (Freund Bär), sprach der Fuchs zum Bären, " ich nähe dir zuerst den After zu." Und er nähte ihm mit ganz tiefen Stichen ins Fleisch den After kräftig zu. Der Bär verzog dabei trotz des Schmerzes keine Miene, da der Fuchs ihm gesagt hatte, er dürfe bei dieser Prozedur nicht immer "Aua" schreien. Dank der Tapferkeit des Bären war der Fuchs daher in der Lage, den After des Bären besonders fest zuzunähen. Als nun aber der Bär an der Reihe war, dem Fuchs den After zuzunähen, schrie dieser ständig: "Autsch! Aua! Au!" Daher war der Bär sehr vorsichtig und nähte seinem Freund nur die Haare zusammen, nicht aber die Haut. Der Fuchs war daher in der Lage, heimlich die Naht wieder zu öffnen, und konnte so ungehindert seine Notdurft verrichten. Der Bär jedoch fraß in den folgenden Tagen Unmengen, konnte seinen Darm aber nicht entleeren. Sein Atem ging von Tag zu Tag schwerer. Nach drei Tagen schließlich jammerte er nur noch leise vor sich hin. Da dachte der Fuchs, der thawo thom sei nun tot, und zog vorsichtig an dem Faden. Er sagte sich nämlich: "Wenn er jetzt tot ist, dann kann ich ihn ja fressen." Doch als er den Faden herausgezogen hatte, kam der ganze Mist heraus, und der Bär kam wieder zu sich. Wütend rannte er nun hinter dem Fuchs her und schrie: "Du bist mir ja ein guter Freund! Du hast mich betrogen! Warum bist du denn eigentlich nicht so halbtot wie ich?"

Der Fuchs floh in seiner Angst auf einen Baum, auf dem sich ein großes Bienennest befand. Als der Bär nun den Fuchs verprügeln wollte, beschädigte er dabei dieses Bienennest. Da stürzte sich das ganze Bienenvolk auf den Bären, der panisch die Flucht ergriff. Schließlich brach er sich bei dieser wilden Flucht auch noch ein Bein. Der Fuchs aber beobachtete die ganze Sache in Ruhe von seinem Baum aus und sprach: "Die Trommeln des Königs klingen!"

Die drei Schwestern

Es hatte eine Familie drei herangewachsene Töchter. Eines Tages kamen zwei Heiratsvermittler mit einem heiratswilligen Kaufmann und fragten die Eltern der drei Mädchen, ob sie bereit wären, eine Tochter herzuschenken. Der Vater wandte sich an die älteste Tochter und fragte sie, ob sie den Mann heiraten wolle. Die Tochter aber sagte nein. Auch die mittlere Tochter lehnte ab, als sie gefragt wurde. Es ist eine Frage des Stolzes der Mädchen, zunächst einmal nein zu sagen. Schließlich fragte der Vater auch noch die jüngste Tochter, und diese willigte ein.

Anders als bei den Sherpa sonst üblich nahm der Kaufmann seine Braut sofort mit. Der Weg zu seinem Dorf war sehr lang. Es dauerte ein Jahr, bis sie dort ankamen. Zwischenzeitlich hatte die junge Frau bereits ein Kind zur Welt gebracht. Sie war eine äußerst höfliche Frau, die immer nur die angenehmsten Dinge und Worte zu ihrem Mann sprach.

Irgendwann begab sich der Kaufmann auf eine größere Geschäftsreise. Er sagte seiner Frau, sie solle während seiner Abwesenheit nur ja niemandem die Tür öffnen. Dann machte sich der Mann auf den Weg. Einige Tage später klopfte es bei der jungen Frau an der Haustür. Sie rief durch das vergitterte Fenster, wer den draußen sei. Es war ihre älteste Schwester, die es vor lauter Neid und Neugier nicht mehr zu Hause ausgehalten hatte. Sie hatte sich daher auf den Weg zu ihrer jüngsten Schwester gemacht, um mit eigenen Augen zu sehen, auf welchen Wohlstand sie selbst verzichtet hatte. "Kindchen, mach bitte die Tür auf", sagte sie nun zu ihrer Schwester. Doch diese antwortete: "Nein, der Geschäftsmann hat gesagt, ich solle niemandem die Tür öffnen." Selbst ihre Schwester wollte sie nicht ins Haus lassen. Als die älteste Schwester erkannte, daß sie keinen Erfolg mit ihren Bitten haben würde, sprach sie zu ihrer Schwester: "Dann reiche mir doch wenigstens die Hand deines Kindes durch das Fenstergitter!" Die junge Frau dachte sich nichts Böses dabei und erfüllte den Wunsch ihrer Schwester. Diese ergriff die Hand des Kindes und hielt sie ganz fest. "Entweder öffnest du jetzt die Tür, oder ich reiße dem Kind die Hand ab", drohte sie ihrer Schwester. Diese wurde von Panik ergriffen und sah keinen anderen Ausweg, als ihrer Schwester doch die Türe zu öffnen.

Sobald die älteste Schwester im Haus war, fragte sie die junge Frau aus, wie sie mit ihrem Manne umgehen und wie sie ihn anreden würde. Auch wollte sie wissen, wie diese mit den Tieren umgehen und wie sie zu ihnen sprechen würde. Die jüngste Schwester verdrehte in ihrer Antwort jedoch genau die Wirklichkeit. "Wenn ich meinem Mann das Essen vorsetze, dann sage ich zu ihm: Friß deinen Totenfraß! Zu den Tieren aber sage ich: Esse schön, trinke fein, schlafe gut!" Die älteste Schwester glaubte diesen Ausführungen. Sie fragte nach einem Kamm. Die junge Frau habe so viele Läuse. Sie müsse ihr unbedingt die Haare kämmen. Sie sehe so schlecht aus. "Komm wir gehen zum See, damit du selbst sehen kannst, wie schlecht du aussiehst", sprach sie.

Die junge Frau dachte sich nichts Übles, nahm das Kind und ging mit ihrer Schwester zum See. Dort kämmte die älteste Schwester ihr die Haare und lauste sie. Doch als sich eine günstige Gelegenheit ergab, gab sie der jüngeren Schwester einen Schubs, so daß diese in den See stürzte, wo sie sogleich ertrank. Dann ging sie mit dem Kind zum Haus der Schwester zurück.

Als der Kaufmann von seiner Geschäftsreise nach Hause zurückkehrte, schrie das Kind ununterbrochen. Der Mann wunderte sich, daß seine Frau das Kind nicht beruhigen konnte. Als sie ihm dann das Essen vorsetzte, war dies im Gegensatz zu sonst äußerst schlecht, und sie setzte es ihm mit den Worten vor: "Da, friß!" Zu den Tieren aber sprach sie in den höflichsten Worten. Der Mann konnte den Verhaltenswandel seiner Frau gar nicht verstehen.

Als das Kind ein Jahr alt war, ging der Kaufmann einmal mit ihm um den See herum spazieren. Da sprach das Kind zum Vater: "Ama e!" (Mutter tot) Und es zeigte dabei auf die Stelle im See, an der seine Mutter ertrunken war. Als der Mann dorthin blickte, bewegte sich auf einmal der See, und die Gestalt der Frau tauchte für einen Augenblick bis zur Hüfte aus dem Wasser auf, um dann sogleich wieder zu verschwinden.

Nun erkannte der Kaufmann die ganze Wahrheit. Er verbrannte die Schwägerin, die er für einige Zeit für seine Frau gehalten hatte, bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen und stieß dabei die Verwünschung aus: "Du sollst als Hund wiedergeboren werden!" Bereits nach drei Tagen wuchsen an dem Verbrennungsplatz Brennesseln. Die Frau hatte es nicht einmal geschafft, als Hund wiedergeboren zu werden, sie kam als Brennesseln wieder zur Welt.

Die sieben Schwestern

Eine Familie hatte einmal sieben Töchter, die eine wie die andere aussahen. Man konnte sie nicht unterscheiden. Und sie hingen auch ständig unzertrennlich zusammen.

Eines Tages kam ein junger Mann und heiratete eine dieser Schwestern. Doch der arme Mann war wirklich zu bedauern. Er wußte nämlich nie, welche der Schwestern nun seine Frau war. Er dachte daher angestrengt nach, wie er das Problem lösen konnte und kaute sieben Jahre auf seinen Fingernägeln herum und aß den Dreck unter denselben.

Irgendwann konnte dann lha (Gott)sein Elend nicht länger mit ansehen und gab ihm einen Hinweis, wie er seine Frau erkennen konnte. Der lha machte den Mann darauf aufmerksam, daß seine Frau ein kleines Muttermal im Gesicht hatte.

Wenn dieses Märchen erzählt wurde, haben wir uns immer gewundert, wie dämlich doch dieser Mann war.

Gawa gama (Opa und Oma) (Opa und Oma)

In einem Dorf lebte einst ein älteres Ehepaar für sich alleine in einer kleinen Hütte. Sie ärgerten sich darüber, daß ständig eine Affenherde auf die Felder kam und diese plünderte. Zwar verjagten sie die Tiere, aber die Affen kamen immer wieder zurück.

Opa und Oma, wie sie von den Leuten allgemein genannt wurden, waren sehr vergeßlich. Und so vergaßen sie auch ihre Wut auf die Affenhorde. Eines Tages, als die beiden alten Leute gerade Knollen pflanzten, kam der Anführer der Affen und sprach: "Opa! Oma! Um eine gute Ernte zu erzielen, müßt ihr die Knollen kochen, schälen, gut mit Butter, Salz und Pfeffer braten und sie in Blätter verpacken. Dann müßt ihr Löcher in die Erde graben, die Päckchen dort hineinlegen, die Löcher wieder verschließen und die Stellen mit Stöckchen markieren."

Die alten Leute glaubten dem Affen und taten, wie er ihnen geheißen hatte. Als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, kamen die Affen herbeigeschlichen und bedienten sich. Die Knollen waren ja leicht für sie zu finden, und so fraßen sie alle auf.

Die gutgläubigen alten Leute waren sehr wütend. Es gelang ihnen mit einer List, alle Affen in ihrer Hütte zu fangen. Sie banden sie mit einer Leine fest, wie man es mit Kühen zu tun pflegt. In ihrem Ärger wollten sie die Tiere kräftig mit Stöcken verprügeln. Der Anführer der Affen sprach zu den Alten: "Opa! Oma! Mich könnt ihr auch an dem Holzgriff der Steinmühle festbinden. Ich bin mir meiner Schuld voll bewußt und werde mich nicht wehren. Das ist Ehrensache."

Wieder glaubten die alten Leute den Worten des Affenführers. Als sie dann mit Holzknüppeln auf die Tiere einschlugen, riß sich der Anführer der Horde blitzschnell los - der Holzgriff der Steinmühle war ja nur lose eingesteckt - und befreite auch alle anderen Affen. Die ganze Horde rannte davon und verschwand für immer in den Wäldern. Seither ist dort ihr Lebensraum.

Die geraubte Frau

Es lebte einst einmal ein da dasa gyelbu (König); der hatte ein sehr schöne Frau. Diese wurde ihm eines Tages geraubt. Der Räuber war ein Riese, ein Menschenfresser, eine Art Ungeheuer. Er lebte nicht auf unserer menschlichen Erde sondern in einem Erdteil, zu dem sterbliche Menschen nicht hingelangen konnten. Der Mann war lange Zeit sehr verzweifelt und wußte nicht, wo er seine Frau suchen sollte. Schließlich kam er auf die Idee, die Sonne zu fragen, die als Gottheit betrachtet wird, da sie die ganze Welt von oben überblickt.

Nun hatte er das Glück, daß er zu einer Zeit lebte, als die Pferde fliegen konnten, so daß er die Möglichkeit hatte, zur Sonne zu reisen. Für unterwegs nahm er nur eine Handvoll Futter für das Pferd und für sich eine Handvoll Getreide und ein Stückchen Salz mit. Bei dem lha angekommen wären die beiden beinahe abgestürzt ob der göttlichen Kräfte, die die Gottheit umgaben. Doch er überstand den Zwischenfall und konnte dem lha sein Anliegen vorbringen. Die Gottheit erklärte sich bereit, dem armen Mann zu helfen, und verwandelte ihn aus diesem Grunde in eine Maus. Der Riese war nämlich in der Lage, wenn er auf einem Berggipfel stand, einen Menschen, der sich auf einem Nachbargipfel befand, nur mit dem Hauch seines Mundes einzuatmen. Die Maus war jedoch so klein, daß sie sich leicht unter Steinen und Gestrüpp oder gar in der Erde verkriechen konnte, ohne von dem Riesen auch nur im Geringsten bemerkt zu werden.

So gelangte der Mann als Maus mit Hilfe der Sonne schließlich zu der Stelle, an der seine Frau täglich für den Haushalt des Riesen Wasser zu schöpfen pflegte. Nun war Salz in der Welt des Ungeheuers unbekannt, und die Frau hatte bereits einige Jahre hier verbringen müssen. Der Mann in der Gestalt der Maus warf nun ein Stückchen von dem mitgebrachten Salz in die Quelle, als seine Frau gerade zum Wasserholen kam. Die Frau kostete von dem Wasser der Quelle und war sehr verwundert, endlich wieder den Geschmack von Salz auf der Zunge zu verspüren. Da sie schon so lange in dieser unmenschlichen Welt lebte, waren ihr auf der Zunge bereits Haare gewachsen; vielleicht lag dies daran, daß sie so lange Zeit kein Salz gegessen hatte. Als sie nun den Salzgeschmack auf der Zunge verspürte, fragte sie sofort, ob ihr Mann wohl in der Nähe wäre. Da kam die Maus aus ihrem Versteck hervor. Die Frau glaubte sofort, daß es sich bei dieser Maus um ihren Mann handelte, und freute sich, mit ihm sprechen zu können. Die beiden schmiedeten nun Pläne, wie sie wohl am besten das Ungeheuer aus dem Weg räumen könnten. Der Riese befand sich gerade auf der Jagd; das pflegte er immer des Nachts zu tun, wenn die Menschen schliefen und er dann ungestört fressen konnte.

Die Frau bat nun das Ungeheuer, doch wenigstens eine Nacht einmal bei ihr zu Hause zu bleiben. Der Riese lehnte zunächst ab, da sein Hunger ganz einfach zu groß war. Er sagte, er brauche für einen Abend neun muri (1 muri = ca. 87 l) Getreide zu fressen sowie neun som (Faß) Wasser zu trinken. Wenn er das zu sich genommen habe, würde er anschließend sehr fest schlafen. Dann könne man mehrere Zentner Getreide unter seiner Armachsel dreschen, oder es könnten sieben Pferde über ihn hinwegreiten, ohne daß er davon wach würde. Damit er die Frau nicht aus Versehen verschluckte, hatte er ihr geraten, sich immer hinter seinem Rücken aufzuhalten, wenn sie sich gemeinsam im Haus aufhielten.

Als der Riese gefressen hatte und eingeschlafen war, nahm die Maus wieder ihre menschliche Gestalt an. Nun schritt das wiedervereinte Ehepaar zur Tat. Wegen des tiefen Schlafes des Riesen war es ihnen ein leichtes, ihn mit vereinten Kräften zu ermorden. Dann machten sich die beiden auf den Heimweg.

Leider war der Weg nach Hause unwahrscheinlich lang, und die beiden hatten nichts zu essen bei sich und hungerten sehr. Schließlich sahen sie keine andere Möglichkeit, als bei einem Schäfer am Wegrand ein Schaf zu stehlen. Dabei wurden sie jedoch von dem Schäfer überrascht. Dieser warf mit Steien nach dem Paar und traf den Mann so unglücklich an der Schläfe, daß das Blut in Strömen floß. Der Mann forderte seine Frau auf, das herabfließende Blut in einem goldenen Teller aufzufangen. Dies sei die einzige Möglichkeit, sein Leben zu retten. Da die Frau aber natürlich keinen goldenen Teller zur Hand hatte, hielt sie ihr Gewand auf, so daß das Blut dort hineinfließen konnte. Aber dies war natürlich kein gleichwertiger Ersatz für einen goldenen Teller. Daher war ihr Mann zum Sterben verurteilt, und die Geschichte fand doch noch ein unglückliches Ende.

Aber wenn das Ungeheuer auch getötet wurde, so existieren Teile von ihm in anderer Form noch heute. Die schwarzen Blutegel sind sein Fleisch, das von dem Paar auf seinem Heimweg gekocht und verzehrt wurde. Die roten Blutegel sind das ungekochte Fleisch, und die Stechmücken sind sein Atem.

Der Lumpenkönig

Es gab einmal ein Reich mit einer großen Anzahl von Königen. Einer von diesen war als Lumpenkönig oder als "zerfetzter König" bekannt wegen seiner zerfetzten Kleidung, die er immer auf dem Leib trug, da er so arm war. All die anderen Könige waren viel reicher und mächtiger als er. Nun war es der sehnlichste Wunsch des Lumpenkönigs, auch einmal ein ganz klein wenig richtig König zu sein, auch etwas von der Würde eines Königs an sich zu haben. Die übrigen Könige waren zunächst dagegen. Schließlich lenkten sie jedoch ein; auch der Lumpenkönig sollte ein wenig König sein, wenn er drei Bedingungen erfüllte. Und nachdem sich die übrigen Könige beraten hatten, sprachen sie zu ihm: "Geh' nach Gyala in Indien. Dort findest du einen Teich, in dem wächst eine gyelwi mendok (Königsblume, Lotos). Diese Blume mußt du pflücken und zu uns hierher zurückbringen."

So machte sich der Lumpenkönig auf den Weg nach Indien zu dem Teich, wo jene wunderbaren Blumen wuchsen. Doch in diesem Teich lebten gefährliche Giftschlangen, die die Blumen bewachten. Gedankenversunken trabte der Lumpenkönig seines Weges und überlegte, wie er wohl dieses Hindernis überwinden könne. Da stieß er mit seinem Fuß gegen einen Stein, der da auf der Erde lag. Er ärgerte sich sehr darüber und trat daher recht kräftig gegen diesen Stein. Da flog zu seiner Verwunderung etwas in die Luft. Es war ein alter Geier, dem ein verschluckter Knochen im Hals steckengeblieben war, und der im Sterben lag. Durch den Tritt des Lumpenkönigs jedoch hatte sich der Knochen aus dem Hals gelöst. Daher sprach der Geier zum Lumpenkönig: "Du hast mir das Leben gerettet. Als Dank dafür werde ich auch dir einen Dienst erweisen." Da erzählte ihm der Lumpenkönig, daß er auf dem Weg nach Gyala wäre, um einen gyelwi mendok aus dem Teich zu pflücken. Dann könne auch er ein wenig König sein. Als der Geier dies hörte, erschrak er sehr: "Was muß ich da hören? Dort gibt es doch zahlreiche rul. Diese werden dich zerdrücken und verschlingen. Außerdem ist der Weg zu jenem Teich unwahrscheinlich weit." Doch der Geier wußte einen Ausweg. Er nahm den Lumpenkönig ganz einfach auf seinen Rücken und flog mit ihm eine endlos scheinende Strecke durch die Lüfte, bis er in der Nähe des Teiches zu Boden ging.

Der Lumpenkönig begab sich nun zu dem Teich und kletterte langsam an dem Blumenbaum hoch. Doch als er oben ankam und gerade eine der wunderbaren Blumen abbrechen wollte, kam eine Schlange gekrochen und wand sich an seinem Körper hoch. Währenddessen hatte der Geier sich auf dem Ast eines Baumes niedergelassen, und als die Schlange gerade zubeißen wollte, um den Lumpenkönig zu töten, kam er blitzschnell angeflogen, packte die Schlange mit seinem Schnabel und riß sie vom Körper des Lumpenkönigs fort. Nun konnte der Lumpenkönig in Ruhe seine Blume pflücken. Danach trug der Geier ihn auf seinem Rücken zu jener Stelle zurück, wo er ihm zuvor begegnet war. Hier bedankte sich der Lumpenkönig herzlich bei seinem Freund und nahm Abschied. Sie waren sich beide nun nichts mehr schuldig; jeder hatte dem anderen einen Dienst erwiesen und ihm das Leben gerettet.

Die übrigen Könige hatten schon längst nicht mehr mit seiner Rückkehr gerechnet, da sie annehmen mußten, daß er von einer Schlange getötet worden wäre. Umso größer war nun ihr Erstaunen, als sie ihn mit der Blume ankommen sahen. Daher stellten sie nun ihre zweite Forderung: "Wenn du wirklich König werden willst, mußt du als nächstes zu einer Tigerin gehen, bei ihr etwas Milch melken und diese Milch dann zu uns hierher bringen." Sie dachten natürlich, er würde niemals wieder lebendig von der Tigerin zu ihnen zurückkehren. Doch auch diesmal waren die höheren Mächte dem Lumpenkönig wohlgesonnen. Er konnte ungehindert zu der Tigerin gehen, und diese ließ es sich gefallen, daß er bei ihr etwas Milch molk.

Als er nun abermals unversehrt zu den übrigen Königen zurückkehrte, trugen diese ihre dritte Bedingung vor: "Wir geben dir jetzt eine Rabenfeder. Gehe zu jenem großen Baum, den du dort siehst und schneide ihn mit Hilfe der Feder durch." Hielten die übrigen Könige dies auch für eine absolute Unmöglichkeit, so ließ sich der Lumpenkönig dennoch nicht lange auffordern. Er ging zu dem Baumriesen und sägte ihn vor den Augen der erstaunten Könige – eins, zwei, drei – mit der Rabenfeder entzwei. Damit waren die drei Bedingungen der übrigen Könige erfüllt und der Lumpenkönig durfte auch ein wenig König werden, denn nun konnten auch die anderen Könige keine Bedenken mehr haben.

Der penbu und Pawa Cherenzi

Vor langer Zeit gab es einmal einen penbu (Schamane) , der sich auf eine Diskussion mit Pawa Cherenzi einließ. Jeder er beiden behauptete, der Meister zu sein. Da schlug Pawa Cherenzi vor, den Zwiestreit im friedlichen Wettkampf beizulegen. Wer bei Sonnenaufgang als erster von ihnen beiden hoch oben auf dem höchsten ri (Berg) ankäme, der sollte von sich behaupten können, der wahre Meister zu sein.

Der penbu willigte ein und machte sich bereits am Vorabend des festgesetzten Tages auf den Weg zum Fuß des ausgewählten Berges. Unter ständigem Trommeln versetzte er sich in Trance und versuchte, bereits beim ersten Morgengrauen oben auf dem Berg anzukommen. Doch das wollte ihm nicht so ganz gelingen. Pawa Cherenzi wartete unterdessen unten im Tal ganz ruhig den Sonnenaufgang ab, setzte sich dann auf den ersten Sonnenstrahl und war in Sekundenbruchteilen mit ihm auf dem Gipfel des Berges angelangt. Damit war erwiesen, daß Pawa Cherenzi der wahre Meister war. Der penbu hatte die Wette verloren. Seitdem weiß man, daß ein penbu etwas minderwertiger ist als Pawa Cherenzi, da jener nicht in der Lage ist, auf einem Sonnenstrahl zu reiten.

Die Schulden des armen Mannes

Es lebten einmal ein sehr reicher und ein sehr armer Mann. Der reiche Mann hatte alles, was man sich nur denken konnte, in großem Überfluß. Der arme Mann hatte gar nichts zu essen und kam daher immer wieder zum reichen Mann, um Getreide zu leihen. Der Reiche lieh ihm Getreide, obgleich der Arme ihm seine Schulden nie zurückzahlte.

Irgendwann starben die beiden Männen, ohne daß die Schulden beglichen worden waren. Das Schicksal wollte es, daß der reiche Mann als Schaf mit einem kaputten Horn wiedergeboren wurde, der arme Mann aber als Elefant. Das Schaf lebte bei einer kinderlosen armen Familie, während der Elefant das Reittier des Königs war.

Eines Tages wollten die armen Leute das Schaf schlachten, da dies das einzige war, was sie noch hatten. Da glaubten die beiden, ihren Ohren nicht zu trauen, als das Schaf sie ansprach und sagte: "Tötet mich nicht! Ich bin reich. Der Königselefant schuldet mir sehr viel." Das Schaf forderte die Leute auf, zum König zu gehen und diesem zu erklären, ihr Schaf wolle mit seinem Elefanten kämpfen. Die Leute taten, wie das Schaf sie geheißen hatte und gingen zum Königspalast.

Der König war einverstanden, stellte jedoch eine Bedingung. Wenn das Schaf gegen seinen Elefanten gewänne, bekämen die Leute das halbe Königreich vermacht. Wenn aber das Schaf verlöre, dann würden das Ehepaar und ihr Schaf getötet.

Das Schaf sagte den armen Leuten, sie sollten an sein eines Horn eine Waage festbinden und an das andere Horn ein mana-Maß. Als der Elefant das so ausgestattete Schaf erblickte, erschrak er zu Tode, machte auf der Stelle kehrt und raste mitsamt dem König in großer Hast davon.

Der König gestand seine Niederlage ein. Das arme Ehepaar erhielt die Hälfte des Königreichs. Das Schaf aber lebte noch lange glücklich und zufrieden bei den Leuten. Es soll achtzehn Jahre alt geworden sein.

Die böse Stiefmutter

Eine Familie lebte einst in Glück und Frieden zusammen. Es waren dies ein Mann, seine Gattin, sein Sohn und seine Tochter. Der Mann war Händler von Beruf und daher viel von zu Hause weg. Als er sich eines Tages auf eine längere Geschäftsreise begeben mußte, ermahnte er seine Familie besonders eindringlich, nicht zu sehr herumzualbern und herumzutanzen, denn das würde Unglück über die Familie hereinbringen. Dann machte er sich auf den Weg.

Es kam, wie es kommen mußte: Die Familie befolgte den Rat des Vaters nicht im geringsten. Ja man trieb es sogar so weit, daß man auf dem Leichenverbrennungsplatz tanzte. So nahm das Unglück seinen Lauf, als auf einmal die Mutter auf der Stelle tot umfiel. die Kinder gerieten zunächst in Panik. Die Tochter als die Ältere wollte am liebsten ebenfalls sterben. Der Junge sah darin jedoch keinen Sinn, sondern erinnerte seine Schwester vielmehr daran, daß da ja auch noch ihr Vater existierte. So sind die beiden traurig nach Hause geschlichen.

Als der Vater von der Reise zurückkehrte, war er über das Geschehen zunächst sehr bestürzt. Doch mit der Zeit wurden die Wunden des Herzens geheilt, und er heiratete erneut. Das Schicksal wollte es jedoch, daß das junge Mädchen, das der Vater heiratete, in Wirklichkeit eine ganz böse Hexe war. Als der Mann sich wieder einmal auf eine Geschäftsreise begab, nahm die Stiefmutter ihre wahre Hexengestalt an und malte sich darüber hinaus noch das Gesicht mit Farben an, um den Kindern besonders viel Furcht einzujagen.

Als der Mann von seiner Handelsreise zurückkam und sich auf das hübsche Antlitz seiner jungen Frau freute, wurde er bitter enttäuscht. Seine Frau sah nun eher aus, als läge sie gerade im Sterben. Er versprach ihr, daß er alles tun wolle, um sie wieder gesund zu machen, und fragte sie, welche Medizin er ihr geben müsse. Da antwortete sie, es könne ihr gar keine Medizin helfen. Da er sich jedoch immer größere Sorgen um sie machte, sagte sie schließlich, lo und chinba (Herz und Nieren) seines Sohnes und seiner Tochter wären ihre einzige Rettung. Da erschrak der Vater sehr und überlegte, welcher Ausweg aus dieser Situation möglich wäre. Er versteckte seine beiden Kinder in einem abgelegenen Flügel seines geräumigen Hauses und brachte seiner Frau statt der gewünschten Kinderorgane die von zwei Gazellen. Und siehe da, die Frau wurde wieder gesund!

Aber für die beiden Kinder war es eine sehr schwere Zeit, da sie ständig im Verborgenen des Hauses bleiben mußten. Insbesondere dem stets sonnenhungrigen Jungen fiel dies sehr schwer. Eines Tages konnte er der Versuchung nicht mehr widerstehen und spähte hinter dem Vorhang hervor. Das wurde natürlich von der bösen Stiefmutter beobachtet. Sie fühlte sich von ihrem Gatten betrogen und verfiel wieder in ihre alte Krankheit.

Nun wußte der Vater keinen anderen Ausweg mehr, als Mörder zu dingen, die die Kinder auf dem Verbrennungsplatz umbringen sollten. Den Weg dorthin legten sie auf dem Rücken von Pferden zurück, aber sie verstanden es immer wieder, den Ritt zu verzögern. Als sie schließlich doch endlich an dem Verbrennungsplatz ankamen, sollten sie der Sitte entsprechend ihre Henkersmahlzeit einnehmen. Der Junge jammerte aber ständig, er habe keinen Hunger, und so kam es, daß sie bei Einbruch der Dunkelheit immer noch nichts gegessen hatten. Daher kehrte man unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurück.

Am nächsten Tag unternahm man dann einen zweiten Anlauf. Nun packten die gedungenen Mörder den Jungen bei den Haaren und schüttelten ihn kräftig. Da rief das Mädchen: "Mein Herz ist Medizin, das von meinem Bruder aber ist Gift!" Da ließen die Männer den Jungen fallen und wandten sich seiner älteren Schwester zu. Jetzt war es an dem Jungen zu schreien: "Mein Herz ist Medizin, das der Schwester aber ist Gift!" So ging es nun hin und her zum Leidwesen der einfältigen Mörder, bis es schließlich wieder dunkel wurde und man wieder unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren mußte.

Nun ergriffen die Kinder selbst die Initiative und liefen noch in derselben Nacht von zu Hause fort. Nach langem Umherirren im Wald kamen sie zu einem Haus am Wegesrand, vor dessen Tür eine alte Frau beim Spinnen saß. Da der Junge sehr durstig war, bat seine Schwester die Frau um einen Schluck Wasser. Diese sagte jedoch, sie habe kein Wasser da, und gab ihr stattdessen einen Tontopf, in dem sie selbst Wasser holen sollte. Der Topf aber hatte neun Löcher. Das Mädchen machte sich auf den Weg und ließ seinen Bruder bei der alten Frau zurück. Es hörte zwar ständig das Wasser rauschen, fand aber keine Quelle, da die Frau alle Wasserläufe in der Umgebung verzaubert hatte. Schließlich riß sich das Mädchen einige Haare aus und verstopfte damit die neun Löcher des Topfes. Dann sammelte es das feuchte Moos des Waldbodens in dem Topf und brachte dies dem Bruder, damit er es ausdrücken und so seinen Durst stillen konnte.

Als das Mädchen jedoch zu dem Haus der alten Frau zurückkehrte, bestritt diese, daß es seinen Bruder bei ihr zurückgelassen habe und drohte, es mit der Spindel totzuschlagen, wenn es nicht sofort das Weite suchte. Kaum war das Mädchen außer Sichtweite, versuchte die Alte dreimal, den Knaben, den sie zuvor versteckt hatte, zu verschlingen; doch jedesmal blieb dieser mit der Ferse in ihrem Rachen stecken.

Es ereignete sich zu jener Zeit, daß in einem nahegelegenen Königreich der König gestorben war, ohne einen Thronfolger zu hinterlassen. Daher war eine Gruppe von neun Staatsdienern im Lande unterwegs, um einen geeigneten neuen König zu kaufen. So gelangten sie eines Tages auch zum Haus der alten Hexe. Diese sagte, der Junge müsse etwas ganz besonderes sein, da er der erste Knabe wäre, den sie nicht habe verschlingen können. Die Beamten sahen sich am Ziel ihrer Suche, bezahlten der Alten das ganze Geld, das sie mit sich führten - und das waren fast neun Säcke an Münzen - und kehrten mit dem Jungen in ihr Reich zurück.

Als sie dort ankamen, war bereits das ganze Volk versammelt, um einen neuen König aus allen Anwesenden zu wählen; man wollte nun nämlich nicht mehr länger warten. Die Wahl sollte der Elefant des verstorbenen Königs treffen: Derjenige, auf dessen Haupt er eine goldene phumba (Vase) niedersetzen würde, der sollte fortan König sein. Der Elefant ging reihum und tat mal hier und mal dort so, als wolle er die Vase mit seinem Rüssel auf das Haupt eines der Anwesenden niedersetzen, doch schließlich stellte er sie auf einem hohlen Baumstumpf ab. Die umstehenden Leute wunderten sich, was das wohl sollte, denn schließlich konnte ja der Baumstumpf nicht König werden. Als man jedoch zu dem Baumstumpf kam, kletterte unser kleiner Junge daraus hervor. Er hatte sich nämlich dort versteckt, da er sich wegen seiner zerrissenen Kleidung so sehr schämte. Doch das Schicksal hatte es so gewollt: Er wurde nun König und herrschte fromm und rechtschaffen von seinem Palast aus.

Der Schwester war es unterdessen weniger gut ergangen. sie hatte sich als Bettlerin mehr schlecht als recht durchs Leben geschlagen und kam nach sieben Jahren auch in die Stadt, in der ihr Bruder König war. Als sie den Palast sah, dachte sie, dort wäre wohl am ehesten etwas zu holen, und wandte sich geradewegs dorthin. Sie bat mit lauter Stimme um eine Handvoll phe (Mehl) und ein Stückchen Stoff. Auch dem König drang ihr Gezeter zu Ohren, und er erkannte sofort die Stimme seiner Schwester. Vor lauter Aufregung verließen ihn die Kräfte, und er fiel in tiefe Ohnmacht. Seine Diener glaubten, die fremde Bettlerin habe über ihren König Unglück gebracht und verprügelten die junge Frau nach Strich und Faden. Glücklicherweise erwachte der junge König bald wieder aus seiner Ohnmacht und konnte die Situation aufklären. Unendlich groß war die Freude der beiden Geschwister, daß sie sich nun endlich wiedergefunden hatten. Von nun an lebte auch die Schwester im königlichen Palast. Der König hatte ein goldenes, seine Schwester ein silbernes Bett.

Als der König eines Morgens gerade sein übliches Morgengebet verrichtete, landete auf der Fensterbank eine Brieftaube, die vom langen Flug völlig erschöpft war. Der König wunderte sich, daß sie selbst zum Gurren zu müde war, und schlug mit einem Schreibgerät nach ihr. Da zappelte die Brieftaube, und unter ihrem Flügel kam ein Brief zum Vorschein. Der junge König öffnete den Brief und erkannte sofort die Handschrift seines Vaters. Dieser teilte in dem Schreiben mit, daß er im Sterben läge; die Hexe, seine Gattin, habe ihm Tag und Nacht mit sieben Messing- und sieben Eisenröhrchen Blut abgesaugt, und er bäte um Medizin. Ungeachtet dessen, was geschehen war, war der König sofort bereit, seinem Vater zu helfen. Seine Schwester aber war dagegen, da der Vater sie damals hatte töten wollen.

Ihr Bruder ließ sich jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen und ging als Mönch verkleidet zu seinem Vater. Wie das Schicksal es so wollte, begegnete er unterwegs seiner bösen Stiefmutter, die ihn fragte: "Junger Mann, wo gehen Sie denn hin?" "Tante", sagte dieser, "ich suche eine Frau für meinen Vater." Da sagte die Stiefmutter: "Warum nehmen Sie denn nicht mich?" Der junge Mann erklärte sich einverstanden unter der Bedingung, daß er zuvor einen Pfeil unter ihre Armachsel schießen dürfe. Falls er sie träfe, könne sie die Frau seines Vaters werden. Die böse Stiefmutter willigte ein, der junge Mönch legte an und traf die Frau mitten ins Herz. Sie stürzte tot zu Boden und wurde auf der Stelle von ihrem Stiefsohn verbrannt. Während der Rauch vom Scheiterhaufen emporstieg, sprach er den Fluch: "Mögest du doch als Hund wiedergeboren werden!"

Dann setzte er seinen Weg fort, holte seinen kranken Vater und kehrte mit ihm in sein Reich zurück. Als sie an der Stelle vorüberkamen, an der er seine Stiefmutter verbrannt hatte, sah er, daß dort schon Brennesseln wucherten.

Tenma (weiblicher Yeti) (weiblicher Yeti)

Eines Tages verschwand ein junger, heiratsfähiger Mann spurlos. Niemand wußte wo er geblieben war. Es wurden die verschiedensten Behauptungen aufgestellt, was mit ihm geschehen sein könnte. Zu diesen Theorien gehörte beispielsweise die Möglichkeit, daß irgendwelche Dämonen oder Geister ihn zum Selbstmord getrieben haben könnten. Da aber seine Leiche nirgendwo gefunden wurde, dachte man über andere Möglichkeiten nach. Dazu gehörte auch die Idee, daß ein Waldmensch, ein tenba (männlicher Yeti) oder eine tenma ihn verschleppt haben könnten. Diese Waldmenschen lieben es nämlich, Menschen zu verschleppen. Oft tun sie dies nur für einige Stunden, indem sie sie in Höhlen verstecken. Manchmal aber tauchen die Verschleppten niemals mehr oder erst nach sehr langer Zeit wieder auf.

Die Waldmenschen sind bei ihrer Auswahl der Personen, die sie verschleppen, sehr wählerisch. So sollten die Menschen möglichst gut aussehen; häßliche Menschen interessieren die Waldmenschen nicht. Daher kommt es übrigens auch, daß in erster Linie junge Männer und Mädchen verschleppt werden.

Daher war also die Vermutung, daß jener schöne junge Mann einem Waldmenschen zum Opfer gefallen war, durchaus im Bereich des Möglichen. Nach einem Jahr, man glaubte schon gar nicht mehr, daß er überhaupt noch leben würde, tauchte der junge Mann auf einmal wieder im Dorf auf. Seine Erzählung bewies, daß die Leute mit ihren Vermutungen sehr richtig gelegen hatten. Der Mann war tatsächlich von einer tenma verschleppt worden. Seine Geschichte mutete geradezu abenteuerlich an.

Ob er freiwillig mit der Waldfrau weggegangen war oder gewaltsam verschleppt wurde, ließ der junge Mann offen. Jedenfalls berichtete er, daß sie ein Jahr lang als Mann und Frau zusammengelebt hatten und daß die tenma ihn nicht habe weggehen lassen. Nach einiger Zeit gebar die tenma ein Kind, dessen Oberkörper wie der eines Menschen aussah, dessen Unterleib aber behaart war, wie es bei den Waldmenschen üblich ist. Ob es sich dabei um einen Jungen oder um ein Mädchen handelte, sagte der junge Mann nicht.

Mit der Zeit wurde in dem Mann jedoch die Sehnsucht nach der Welt der Menschen und nach seinem Dorf immer größer, so daß er über Fluchtmöglichkeiten nachsann. Als der schneereiche Winter hereinbrach, sah er endlich eine Chance zu entkommen. Da es nun zu kalt war, barfuß durch die Gegend zu laufen, nähte er Schuhe aus Tierfellen. Das Nähen von Schuhen gehört zum Arbeitsbereich des Mannes. Während der Mann seine eigenen Schuhe in üblicher Weise herstellte, nähte er die Schuhe der tenma so, daß das Fell nach außen und nicht wie üblich auf der Innenseite war. Als die beiden dann mit ihrem Kind, das er der tenma auf den Rücken gebunden hatte, durch den Schnee stapften, hatte sie zunehmend Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Der junge Mann ging mit seiner Tragelast schnellen Schrittes voran den Berghang hinauf, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. Die tenma rutschte mit ihren Fellschuhen laufend auf dem glatten Schnee aus und blieb immer weiter zurück. Obwohl sie ständig hinter dem Mann herrief, tat dieser so, als habe er nichts gehört, und ging mit unvermindertem Tempo weiter, bis er zu seinem Heimatdorf gelangte.

Widersprüchlich war seine Aussage, daß er sich angeblich nicht mehr nach seiner Frau und seinem Kind umgedreht habe. Andererseits behauptete er aber auch, er habe gesehen, daß das Kind bei den ständigen Stürzen schwere Kopfverletzungen davongetragen habe, und daß die tenma das herausquillende Gehirn des Kindes aufgeleckt habe. Im Dorf wurde dieses Ereignis daher noch lange diskutiert.

Tenma und Tenba (männlicher Yeti) und Tenba (männlicher Yeti)

Eine tenma war eine sehr neugiere Person. So wurde beispielsweise berichtet, daß sie oft im Dunkeln zu einer Hütte kam und dort genau beobachtete, was drinnen die Frau des Hauses machte. Sie schaute zu, wie die Frau das Essen kochte und wie sie ihr Baby fütterte oder wie sie ihr Haar wusch und sich kämmte.

Die tenma scheute sich jedoch, die Hütte zu betreten, solange das Feuer noch brannte. Erst als die Frau eingeschlafen war und das Feuer allmählich erlosch, schlich sich die tenma in die Hütte. Nun machte sie selbst all das nach, was sie bei der Frau beobachtet hatte. Es wird leider nicht berichtet, ob ihr das auch alles so gelungen ist. Aber wegen der bekannten Neugier der tenma sagt man zu einem kleinen Kind, das den Erwachsenen alles nachzumachen versucht, es sei wie eine tenma und die Erwachsenen amüsieren sich dann über das Kind.

In einer anderen Geschichte wird von einem tenba berichtet, er habe in Tanggaphuk neun Leute mitsamt ihren Getreidesäcken aufgefressen, als die Leute nachts in einer Höhle schliefen. Dieser tenba soll hinterher selbst erstaunt gewesen sein, wie gefräßig er doch war.

Einige tenma und tenba verstecken Mädchen und Jungen für einen halben Tag. Sie versuchen in dieser Zeit, aus den Kindern gute Schamanen zu machen. Wenn sie es nicht schaffen, dann lassen sie die Kinder wieder laufen, weil sie nicht geeignet sind, oder aber die Kinder verschwinden von sich aus in den Wäldern. Um einer derartigen Entführung durch die tenma oder tenba vorzubeugen, empfiehlt es sich, die Ohrläppchen der Kinder zu durchbohren. Dann sind die Kinder nicht mehr vollkommen und unberührt, sondern verschmutzt (metseng), und daher für die tenba und tenma nicht mehr von Interesse. Das Durchbohren der Ohrläppchen ist ein sehr schmerzhafter Vorgang, auch wenn sie mit Eiszapfen ein wenig betäubt werden. Wenn man den Kindern dann jedoch von der Schutzwirkung der Ohrlöcher berichtet, lassen sie die Tortur bereitwillig über sich ergehen. Das Durchbohren der Ohrläppchen gilt auch ganz allgemein als ein Schutz gegen Krankheiten.


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