Karl-Heinz Kraemer
Department of Political Science of South Asia, South Asia Institute, University of Heidelberg

Waffenruhe, Friedensverhandlungen und neue Hoffnung

(Vortrag auf dem Nepaltag 2003 der Deutsch-Nepalischen Gesellschaft in Bonn)

In: Nepal Information, 91:12-14 (2003)

Nach Jahren ständiger Verschlechterung der politischen Lage zeichnet sich zur Zeit endlich ein Silberstreif am Horizont ab. Doch möchte ich vor allzu voreiligen Schlüssen warnen. Der Weg aus dem politischen Chaos der letzten Jahre wird mit Sicherheit nicht einfach sein. Sorge bereitet auch, daß viele der politisch Verantwortlichen nur zurückblicken und einseitig Fehler der Vergangenheit anprangern, anstatt sich gemeinsam um einen Neuanfang zu bemühen.

Die Ereignisse in Stichworten

Da ich davon ausgehe, daß die meisten Anwesenden die Entwicklungen seit dem letzten Nepaltag verfolgt haben, will ich die wichtigsten Ereignisse nur kurz stichwortartig nennen:

·      Ende Mai 2002 wurden auf Empfehlung des damaligen Premierministers Deuba das Parlament aufgelöst und Neuwahlen für November angesetzt, was u.a. zur Spaltung des Nepali Congress führte; der Ausnahmezustand wurde ohne Parlamentsbeteiligung um drei Monate verlängert (Mißbrauch demokratischer Institutionen)

·      im Juli 2002 verschob die Deuba-Regierung die lokalen Wahlen auf unbestimmte Zeit und ersetzte die gewählten Gremien durch Regierungsbeamte (Ende der Demokratie auf lokaler Ebene)

·      Ende August endete formell der Ausnahmezustand, was jedoch nicht viel an der tatsächlichen Lage änderte

·      Anfang Oktober erklärte Caretaker Premierminister Deuba, die Wahlen nicht fristgerecht durchführen zu können, und forderte König Gyanendra auf, unter Anwendung von Artikel 127 die Wahlen zu verschieben

·      am 4. Oktober erklärte König Gyanendra Premierminister Deuba für unfähig, setzte ihn ab, riß alle exekutive Macht an sich und verschob die Parlamentswahlen auf unbestimmte Zeit (Ende der Demokratie auf zentraler Ebene)

·      am 11. Oktober setzte Gyanendra eine Regierung unter Premierminister Lokendra Bahadur Chand ein, die sich in erster Linie aus Technokraten und Dissidenten der großen Parteien zusammensetzt

·      am 29. Januar 2003 kam es überraschend zu einem Waffenstillstand zwischen Regierung und Maoisten

·      am 27. April begannen Verhandlungen zwischen Vertretern der Maoisten und der Regierung

·      zur Zeit rufen die großen politischen Parteien zur offenen Agitation gegen die Monarchie auf

Die politischen Kräfte

Seit dem 4. Oktober erfolgt ein Machtkampf zwischen drei politischen Playern (König/Regierung, politische Parteien und Maoisten). Nach dem derzeitigen Stand erscheinen mir die politischen Parteien dabei als die großen Verlierer. Erlauben Sie mir zu allen drei Institutionen eine kurze Stellungnahme.

König Gyanendra: Zunächst einige negative Fakten: Die Maßnahme König Gyanendras vom 4. Oktober ist nicht durch die Verfassung gedeckt. Der König ist bei Anwendung des Artikels 127 an die Empfehlungen des Premierministers gebunden. Eine Entlassung des Premierministers wegen Unfähigkeit sieht die Verfassung nicht vor. Das gleiche gilt für die Bildung einer Regierung aus Königs Gnaden: Die Chand-Regierung hat keine Legitimation. Der König hat ganz offensichtlich keine wirkliche Kooperation mit den Parteien gesucht. Er bekennt sich zur Wahrung der Demokratie und zur konstitutionellen Monarchie, doch paßt sein Handeln nicht zu diesem verbalen Bekenntnis. Schon allein der Wortlaut seiner Erklärung vom 4 Oktober und die Art, wie er sich und andere Mitglieder der Königsfamilie in der Öffentlichkeit zelebrieren läßt, erinnern doch allzu sehr an die harte Phase der Panchayat-Zeit in den 60er und 70er Jahren.

Aber bei aller Kritik am Vorgehen Gyanendras muß man auch erwähnen, daß es nicht die Monarchie war, die Nepal in diese ausweglose politische Situation manövriert hat, sondern die politischen Parteien. Die Verfassung ist in den vergangenen 12 Jahren von den Parteipolitikern so oft gebrochen worden, daß sie quasi schon tot war, als der König im Oktober einschritt. Das Vorgehen Gyanendras könnte also als Ermöglichung eines Neubeginns gewertet werden, wenn er es denn tatsächlich auch so interpretiert hätte. Leider hat er genau das unterlassen und behauptet weiterhin, sich auf dem Boden der Verfassung von 1990 zu bewegen.

Politische Parteien: Die großen Parteien tragen die Hauptschuld am Scheitern des demokratischen Systems von 1990. Sie haben heute keine tatsächliche Macht mehr und verweigern sich gleichzeitig jeder Kooperation. Es ist richtig, wenn sie das Vorgehen des Königs und die jetzige Regierung als illegitim bezeichnen, aber sie verschweigen dabei ihre zahlreichen eigenen Verfassungsverstöße. Ich möchte nur an die staatspolitischen Richtlinien der Artikel 24-26 der Verfassung erinnern, an die sich keine Regierung gehalten hat. Alle berechtigte Kritik der politischen Parteien rechtfertigt jedoch nicht ihre Weigerung, sich am derzeitigen Friedensprozeß zu beteiligen. Sollte dieser erneut scheitern, dann können sich die politischen Parteien bereits jetzt einen Großteil der Schuld zuschreiben.

Maoisten: Die Maoisten scheinen die veränderte Lage nach dem 4. Oktober als erste durchschaut und zu ihren Gunsten analysiert zu haben. Sie haben erkannt, daß die wirkliche Macht im Augenblick beim König liegt. Letzterer will nicht mit den politischen Parteien kooperieren und diese wiederum nicht mit ihm. Dies nutzen die Maoisten aus, indem sie nur mit dem tatsächlichen Machthaber verhandeln. Damit sind die Parteien völlig außen vor. Wenn in dem jetzt begonnen Dialog über das zukünftige nepalische Staatssystem verhandelt wird, dann geht es dabei um die Machtverteilung und –beteiligung zwischen Monarchie und Volk. Die Vertreter des Volkes sind dabei nur noch die Maoisten.

Perspektiven

Über mögliche Perspektiven könnte man sich im derzeitigen Stadium sicherlich stundenlang auslassen. Ich möchte nur einige wenige Punkte erwähnen, die immer auf der Prämisse aufbauen, daß die derzeitigen Verhandlungen tatsächlich zu einem echten Dialog führen, der sich daran orientiert, wie die Fehler des 1990er Systems in Zukunft vermieden werden können.

Eine entscheidende Rolle gleich bei den ersten Gesprächen jetzt spielt die Frage: Braucht Nepal eine neue Verfassung oder kann die alte Verfassung neu belebt werden? Angesichts der Tatsachen, daß es weder auf zentraler noch lokaler Ebene Demokratie gibt, daß der König seine konstitutionelle Rolle aufgegeben hat, und daß das Volk seine Souveränität verloren hat, muß man die Verfassung von 1990 als tot bezeichnen. Jeder Versuch, diese Verfassung wieder zu beleben, würde bedeuten, daß sich König und Politiker jederzeit wieder über die Verfassung hinwegsetzen könnten. Dem muß ein Riegel vorgeschoben werden, und das ist nur durch eine neue Verfassung möglich. Das System muß dabei nicht völlig anders aussehen, aber Passagen der Verfassung sind so zu gestalten, daß die zahlreichen Verfassungsbrüche der Vergangenheit in Zukunft ausgeschlossen werden.

Wenn das Land eine neue Verfassung braucht, dann ergibt sich die zweite, bereits heiß diskutierte Frage: Wer soll diese Verfassung schreiben? Sollte dies durch eine gewählte verfassunggebende Versammlung geschehen oder durch ein Gremium ausgewählter Experten und Repräsentanten?

Angesichts der Kürze der Zeit kann ich hierzu nur einen wichtigen Aspekt in den Vordergrund rücken, nämlich den einer ausgewogenen und gerechten Beteiligung aller Gesellschaftsgruppen des multiethnischen, multilingualen, multireligiösen und multikulturellen Staates Nepal. Die Führer jener politischen Parteien, die 1990 die Verfassung geschaffen haben, waren nie gewählt und repräsentierten nicht die Vielfalt der nepalischen Bevölkerung. Das gleiche gilt für die Führungsebenen aller politischen Parteien bis heute. Wenn sich also etwas ändern soll, dann ist es von größter Wichtigkeit, daß die zivile Gesellschaft und die Interessenvertretungen der diversen bisher so stark benachteiligten Gesellschaftsgruppen (ethnische Gruppen, Dalits, Tarai-Bevölkerung sowie Frauen im allgemeinen und denen aus den genannten Gruppen im besonderen) ein angemessenes Mitspracherecht haben. Die Väter der Verfassung von 1990 hatten erklärt, es bedürfe keiner besonderen Rechte für die traditionell benachteiligten Gruppen; angesichts der demokratischen Verfassung würde sich das Beteiligungsproblem von selber lösen. Dies war ein Irrtum, wie man nach 12 Jahren feststellen muß. Den traditionellen Eliten (insbesondere dominiert von männlichen Brahmanen) mangelt es an Verständnis für die Sichtweise der benachteiligten Gruppen und ihre Probleme. Ursache ist dabei auch das Geschichtsbild und einseitig ausgerichtete Erziehungswesen, das ihnen vorgegeben wurde. Hier gibt es sehr vieles zu verändern, was nur über eine gleichberechtigte Kooperation aller Gruppen möglich ist. Ohne eine positive Diskriminierung der bisher benachteiligten Gruppen wird dies jedoch nicht möglich sein. Dieser Ansatz wird zur Zeit intensiv diskutiert. Weitere wichtige Aspekte des Dialogs sollen nur namentlich erwähnt werden, z. B.: Demokratisierung der Parteien, Verbesserung des Wahlsystems, Dezentralisierung (beispielsweise durch ein föderales System), klarere Festlegung der Rechte aller Verfassungsinstitutionen (einschließlich König und Premierminister), Demokratisierung von Militär und Sicherheitskräften usw.

Ferner, und das sei vielleicht noch als Schlußbemerkung erlaubt, wird es wichtig sein, wie man beim Neuanfang mit der Vergangenheitsbewältigung umgeht. Auch hier wurden 1990 Fehler gemacht. Es ist bekannt, daß in den letzten sieben Jahren zahlreiche Verstöße gegen grundlegende Menschenrechte und gegen allgemeines Recht begangen wurden, und zwar sowohl von den Maoisten als auch von staatlichen Sicherheitskräften. Personen und Familien, die dabei zu Schaden gekommen sind, fordern bereits jetzt lautstark Entschädigung und Sühne. Es wird keine leichte Aufgabe sein, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, gleichzeitig aber den Friedensprozeß nicht zu gefährden.


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