Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa
Hennef, Germany

Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994.


Wanderin zwischen den Welten

Zwischenstop Indien

Nachdem ich sieben Jahre in Deutschland gelebt hatte, kehrte ich als eine Art verlorene Tochter erstmals wieder nach Hause zurück. Wir – das waren außer mir noch drei Deutsche, ein Ehepaar und ein weiterer Herr aus der Nähe meines deutschen Wohnortes – waren um 14 Uhr in Frankfurt abgeflogen. Unser Flug sollte uns über Kairo und Karatschi nach Delhi führen; eine Direktverbindung zwischen Deutschland und Nepal gab es damals noch nicht. Eine Landung in Delhi war jedoch wegen starken Nebels nicht möglich. Nachdem wir eine Zeitlang über Delhi gekreist waren und sich die Sichtverhältnisse noch immer nicht wesentlich gebessert hatten, sah sich der Pilot genötigt, Bombay anzufliegen. Um 10 Uhr morgens stiegen wir dort schließlich aus dem Flugzeug. Wir waren sehr neugierig, welcher Anblick sich uns in der Stadt bieten würde, wie das Leben dort war und die Menschen ....

Zwar hatte ich Bombay bereits vor sieben Jahren einmal kennengelernt, doch wirkte die Stadt erst jetzt so richtig auf mich. Unser erster Weg war eine Fahrt mit dem Taxi kreuz und quer durch das Armenviertel der Millionenstadt. Überall saßen Bettler am Straßenrand. Anfangs brannte ich darauf, diese armen Menschen zu beobachten, ihre gierigen Augen, die hungrigen Gesichter. Es handelte sich um Menschen der untersten Kasten bzw. um Kastenlose. Sie wohnten in armseligen kleinen Hütten aus Bambus und Stroh am Straßenrand. Diese Hütten besaßen weder Fenster noch Türen; es handelte sich lediglich um vier Wände mit einem Dach oben darauf. In jeder der kleinen Hütten befanden sich mindestens fünf bis sechs Kinder mit ihrer Mutter. Waschen schien diesen Leuten vollkommen fremd zu sein. Es war sehr heiß. Die Fliegen krabbelten überall auf dem Essen umher und den Leuten über das Gesicht.

Allenthalben rannten die Bettler in Scharen hinter uns her. Eine Bettlerin faßte mich am Arm und wollte unbedingt eine Rupie von mir haben. Obgleich ich mich heftig gewehrt habe, hat sie mich nicht losgelassen. Einer meiner deutschen Begleiter hat sie dann schließlich davongescheucht. Unterdessen hatte uns heimlich, ohne daß wir es bemerkt hatten, ein kleiner Junge Schuhcreme auf unsere Schuhe geschmiert. Nun machte er uns darauf aufmerksam, daß die Schuhe schmutzig wären. Es blieb uns nichts anderes übrig als sie uns von dem Jungen putzen zu lassen.

Vielfältig waren die Ansichten der indischen Großstadt – hier Armenviertel, dort schöne neue Häuser. Überall herrschte ein unwahrscheinliches Durcheinander. Immer wieder stießen wir auf Basare. Dort wurden herrliche bunte Gemälde angeboten, verschiedenste Handarbeiten, Töpfereien, Gold- und Silberschmuck, Diamanten, viele auch für mich neue, fremde, sehenswerte Sachen. Am schönsten aber war die warme Sonne, die ich im meist kühlen Deutschland doch oft vermißt hatte. Eigentlich war es ja schon mehr Hitze als Wärme. Beeindruckt war ich auch von den unzähligen Palmenbäumen. Hunde, Kühe, Autos, kleine Kinder, alte Leute, Bettler, reiche Touristen, gut gekleidete Leute, gebildete buddhistische Mönche, Hindus, Jains, Christen, Hippies, alle waren in Bewegung. Alles rannte hin und her. Die ganze Stadt schien sich in einem unaufhörlichen Kreislauf der Bewegung zu befinden. Von allen Seiten drang Musik an unser Ohr. Bei all diesem hektischen, lebhaften Treiben war der Gesichtsausdruck der Menschen keineswegs lustig und fröhlich, eher ernst.

Abends konnten wir endlich unseren Flug nach Delhi fortsetzen. In der indischen Hauptstadt fand gerade irgendeine größere politische Veranstaltung statt. Daher hatten wir sehr große Schwierigkeiten, Hotelzimmer zu finden. Das verwunderte uns etwas bei dieser Millionenstadt. Wir blieben zwei Tage in Delhi und sahen uns die Stadt an. Der Eindruck war doch wieder anders als der von Bombay. Belustigt habe ich den Affen- und Schlangenvorführungen zugesehen. Am Straßenrand stand ein Mann mit Trommel und Flöte und ließ seine Schlangen tanzen. Zunächst lagen die Schlangen zusammengerollt in einem Korb. Wenn der Mann aber dann seine Flöte erklingen ließ, richteten sie sich auf und bewegten langsam den Kopf hin und her. Ständig stieß dabei ihre gespaltene Zunge aus dem Maul hervor. Oft ließ der Mann drei bis vier Schlangen gleichzeitig tanzen. Vor einem solchen Schlangentanz murmelte der Schlangenbeschwörer ein paar magische Formeln oder Worte zu den Schlangen. Andere Schausteller wiederum ließen kleine Äffchen tanzen, die sie an einer langen Leine führten. Jeder Schausteller hatte immer nur einen Affen. Dieser mußte mit seinen Kunststückchen, die er nicht immer willig ausführte, für seinen Herrn das Brot verdienen.

Überall sah man Menschen mit schönen, schlanken indischen Zügen. Mädchen in Gewändern aus ganz feiner orange oder grüner Seide spazierten umher. Auffallend waren immer wieder die Sikh mit ihren Turbanen; einige hatten sich auch ein paar Federn oben darauf gesteckt. Von überall her erklang typisch indische Musik, vor allem in Hindi, was mir sehr gut gefiel. In sämtlichen Geschäften liefen Radios, wobei offensichtlich eines das andere zu übertönen versuchte. Viele Schwarzhändler traten an uns heran und fragten, ob wir vielleicht Geld wechseln wollten. Sie ließen sich nicht so leicht abweisen. Auch wenn man ihnen energisch klar gemacht hatte, daß man kein Geld wechseln wollte, und dann in irgendein Geschäft ging, um etwas anzusehen oder eine Kleinigkeit zu kaufen, so standen sie anschließend, wenn man das Geschäft verließ, immer noch vor der Tür und fragten wieder, ob man nun vielleicht Geld wechseln wollte. Ständig wurde man so angesprochen. Ähnlich verhielt es sich, wenn man irgendwohin fahren wollte. Wenn eine Reihe Taxis dastand, so stritten sich die Fahrer, wer den Gast befördern durfte. Jeder wollte sich gerne ein paar Rupien verdienen. Meist siegte der Stärkere oder der Dreistere.

Bei dieser Gelegenheit erinnere ich mich auch an einen Vorfall, der sich bei unserer Ankunft auf dem Flughafen in Delhi ereignete. Da stand – wie das ja auf indischen Flughäfen und auch in Nepal so üblich ist – eine ganze Reihe von mehr oder weniger kleinen Jungen und bot den ankommenden Fluggästen an, ihnen die Koffer zu tragen. Meist scheuchten auch hier die Großen die Kleineren weg. Wir sagten uns daher: "Laßt uns doch den Kleinen auch einmal etwas tragen lassen; dann kann er sich auch ein paar Rupien verdienen. Vielleicht ist er noch nie dazu gekommen." Aber der kleine Junge konnte den schweren Koffer dann gar nicht tragen, weil er viel zu schwach dazu war.

Überall drängten die Massen. Man sah nur wenige lachende Gesichter. Die meisten waren ganz schweigsam und ernst. Sie wirkten dadurch etwas kühl. Aber vielleicht wurde dieser Eindruck in mir auch nur durch die Masse der Leute hervorgerufen. Jedenfalls wirkten alle irgendwie etwas zurückhaltend. Es fehlte die innere Fröhlichkeit; die Menschen waren gedrückt. Das hatte ich aus meiner Heimat Nepal ganz anders in Erinnerung.

Endlich wieder in Nepal

Dann kam der erste November. Ich glaube, es war ein Mittwoch – auch mein Name, Lhakpa, bedeutet ja übersetzt "Mittwoch". Das war für mich einer der schönsten Tage meines Lebens. Nur der Tag, an dem ich meinen Mann kennenlernte, war noch schöner. Es war einfach wunderbar. An jenem Tag flogen wir nämlich aus der indischen Tiefebene nach Kathmandu, in mein Heimatland Nepal. Anfangs war alles noch so flach wie in Indien, doch dann wurde die Landschaft allmählich gebirgiger. Es herrschte ein herrliches Wetter, wie gemalt, wie im Paradies. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Und unter uns wurden die Berge immer höher und höher. Nun leuchtete schon die Gebirgskette des Hohen Himalaya zum Greifen nahe. Klar und bizarr hob sie sich mit ihren Fels- und Gletschermassiven vom tiefen Blau des Himmels ab. Sie wirkte so nah, als könne man sie mit den Händen greifen. Wie reines Silber glänzten die Schneeberge. Unter den ungebrochen einwirkenden Sonnenstrahlen glitzerten sie wie Kristall. Das Herz schlug automatisch schneller in meiner Brust. Das Flugzeug machte noch einen kleinen Rundflug über die herrliche Bergwelt des Himalya, eine Art Mountain Flight, der uns einen erhebenden Eindruck von der majestätischen Bergwelt und der natürlichen Schönheit Nepals vermittelte. Herrlich, wie die hohen Berge unter uns dahinglitten! Natürlich verstärkte die gute Wetterlage noch diesen Eindruck. Aber für mich war es wohl auch die unbeschreibliche Euphorie, wieder zu Hause zu sein. Doch erst als wir schließlich in Kathmandu landeten, dachte ich bei mir: Jetzt bist du ja in der Heimat! Aber noch immer erschien mir das Ganze wie ein Traum. Ich konnte noch nicht so recht begreifen, daß das alles Wirklichkeit war, daß ich jetzt zum ersten Mal wieder heimatlichen Boden unter den Füßen hatte, zum ersten Mal seit über sieben Jahren!

Der erste Eindruck von der Bevölkerung Kathmandus war wieder Freundlichkeit; es waren alles sehr fröhliche und freundliche Gesichter, die uns hier am Flughafen ansahen. Unser erster Weg durch die Stadt war der zum Hotel. Wir hatten uns zwar schon von Europa aus darum bemüht, jedoch hätte es uns durchaus auch passieren können, daß sämtliche Hotelbetten belegt waren. Doch wir hatten Glück, es waren genügend Unterkunftsmöglichkeiten vorhanden.

Dann machten wir unseren ersten Spaziergang durch diese "Holzstadt", wie der Name der Stadt übersetzt heißt. Warum man keinen treffenderen Namen hätte wählen können, darauf werde ich noch später zurückkommen. Typisch für Nepal stießen wir in der Stadt auf ein Gemisch der verschiedensten Völker und Rassen. So hielten sich damals auch sehr viele Tibeter dort auf. Es handelte sich dabei in der Hauptsache um Flüchtlinge aus dem von China besetzten und unterdrückten "Schneeland". Die tibetischen Flüchtlinge hatten hier im Nachbarland Nepal eine zweite Heimat gefunden und sich in einer ganzen Reihe von Tibetersiedlungen niedergelassen.

In der Stadt blühte der Andenkenmarkt. Man konnte alles kaufen, Götterfiguren und Statuen in allen Größen, vajra, khukuri, Schmuck, Textilien, vieles "very old from Tibet". Es gab aber auch Obst und Gemüse in Massen zu kaufen, doch war das alles für mich leider sehr, sehr teuer.

Die Erntezeit hatte begonnen. Überall auf den Straßen wurde schon Reis gedroschen. Alles, was Arme und Beine hatte, mußte mit anfassen: Männer, Frauen und Kinder. Dazwischen und darüber liefen die kleinen Kinder und die Hunde. Überall saßen die Leute bei der Arbeit auf dem Boden. Hier und da sah man einige, die sich gegenseitig lausten. Anderswo wiederum saßen junge Mütter und stillten ihre Säuglinge. Hier putzten kleine Kinder ihre Nase am Hemdärmel ab (die Kinder waren übrigens meist sehr fröhlich und immer zu allem Schabernack aufgelegt). Dort wiederum saßen Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm. Hier ging eine Frau mit einem Wasserkrug auf dem Kopf. Und dazwischen sah man immer wieder Verkaufsstände aller Art mit Kunstwerken, Lebensmitteln, herrlichen Schnitzereien, Obst – und überall wieder schreiende und lärmende Kinder. Ich wechselte ein paar Worte mit ihnen. Oft verfiel ich dabei in die deutsche Sprache. Wenn ich dann in ihre lachenden aber unverständigen Augen blickte, fiel mir wieder ein, daß sie mich ja nicht verstehen konnten. Dann redete ich wieder ein paar Worte in Englisch, aber Nepali zu sprechen, daß kam mir zunächst gar nicht in den Sinn. Sieben Jahre waren immerhin eine sehr lange Zeit, und ich hatte in dieser Zeit kaum ein Wort Nepali gesprochen, allenfalls bei gelegentlichen Kontakten zur nepalischen Botschaft in Bonn. Hinzu kam noch, daß es sich dabei ja nicht um meine Muttersprache handelte, sondern einfach um die Landessprache, die ich früher noch neben der Muttersprache zu sprechen gewohnt war. In meiner lokalen Heimat, in Shorong, Pharak und Khumbu, dem Hauptsiedlungsgebiet der Sherpa, war die Sherpa-Sprache die tägliche Umgangssprache gewesen. Es handelt sich dabei um einen tibetischen Dialekt, während Nepali eine indisch-stämmige, d.h. also eine indoeuropäische Sprache ist, die sich aus dem Sanskrit entwickelt hat und die indische Devanagari-Schrift verwendet. Ursprünglich wurde von den Sherpa nur die Sherpa-Sprache gesprochen; noch der Generation meiner Eltern war das Nepali fast vollkommen fremd. In meiner Kindheit wurde das Gebiet von Solu-Khumbu so weit administrativ-staatlich erschlossen, daß auch die nepalische Landessprache den Sherpa nicht länger verschlossen blieb. Man lernte es dann später auch auf den allerdings noch sehr, sehr verstreut liegenden Schulen – die ersten Schulen im Sherpa-Gebiet wurden in den sechziger Jahren auf Initiative von Sir Edmund Hillary, dem großen Freund und Gönner der Sherpa, errichtet –, falls man eine solche überhaupt besuchte. Dennoch bürgerte es sich allmählich allgemein ein, daß man neben der Sherpa-Sprache auch Nepali sprechen, allerdings meist nicht schreiben konnte. Wenn wir Kinder damals unsere Eltern ärgern wollten, dann sprachen wir ganz einfach Nepali, und sie verstanden kein Wort.

Aber zurück zu Kathmandu. Die Geschäfte waren nicht das Interessanteste in der nepalischen Hauptstadt. Da hatten natürlich die unzähligen Tempel den Vorrang, einer neben bzw. hinter dem anderen. Man hatte den Eindruck, als gäbe es mehr Tempel als Häuser. Und dann hatte ich noch eine besondere Aufgabe zu erfüllen. Es lebte schließlich eine Reihe von alten Bekannten hier in Kathmandu, und die mußte ich natürlich unbedingt besuchen. Mein erster Besuch galt der Familie des auch über die Landesgrenzen hinaus bekannten Chiniya Lama. Als ich das Haus betrat, stand dort ein junger Mann mit Sonnenbrille und langen Haaren, die von einem Stirnband gehalten wurden, ein richtiger Hippityp. Kannte ich ihn etwa? Sollte das vielleicht mein guter alter Freund Sushil sein, der Enkel des Chiniya Lama? Ich sprach ihn an, und siehe da, er war es. Ich stellte mich vor; auch er hatte mich nicht sofort wiedererkannt. Ich ließ mich auf dem Fußboden nieder und erhielt eine Tasse Tee zu trinken.

Überall um mich herum herrschte ein ungeheurer Wohlstand. Der Chiniya Lama war ein sehr reicher, aber auch sehr angesehener Mann. Er war das religiöse Oberhaupt der buddhistischen Nyingmapa-Gemeinde von Bauddha oder Bodhnath, einem damals noch kleinen Dorf östlich von Kathmandu, das lediglich aus einem Häuserring rund um den großen Chorten und ein paar Häusern entlang der Straße bestand. Ich nutzte die günstige Gelegenheit, mir das Dorf näher anzusehen. Anziehungspunkt war natürlich der große chorten (stupa)mit seinen unvergeßlichen ausdrucksvollen Augenpaaren, die in alle vier Himmelsrichtungen blickten. Mahnend wirkte der scharfe und klare Blick der Augen Buddhas. Der chorten ist zumindest schon seit dem 5. Jh. n. Chr. als wichtiges Pilgerziel bekannt. Seine Kuppel erhebt sich über einem fünffachen Unterbau, der wiederum von einer hohen Steinmauer umgeben ist, in die rundum hölzerne Gebetsmühlen eingelassen sind. Die Spitze des chorten erreicht etwa eine Höhe von 40 m. Der ganze chorten ist in der Form eines Mandala angelegt, d.h. in der symbolischen Darstellung des Weltbildes. Dieses alte buddhistische Pilgerziel war nun auch mein Ziel. Ich kletterte die Stufen bis zum Fuße des Kuppelbaues empor, umschritt den chorten und ließ mich dort oben nieder. Man hatte einen herrlichen Ausblick über die ganze Umgebung bis hin nach Kathmandu. In der Ferne erkannte ich wunderbar angelegte Reisterrassen. Wie man von hier oben aus sehr gut sehen konnte, hatten die meisten Häuser Strohdächer; jedoch waren auch einige Häuser mit Ziegeln abgedeckt. Ich genoß den Anblick von dort oben sehr lange.

Wieder zurück in meinem Hotelzimmer in Kathmandu beobachtete ich zwischen den Häuserdächern hindurch das geschäftige Treiben der Menschen. Was für ein Unterschied zur ländlichen Idylle von Bauddha. Ständig drang das Hupen der Taxis – andere Autos gab es damals kaum – an mein Ohr. Und dann die vielen Tiere, die auf der Straße herumrannten! Das kam mir ja fast noch schlimmer vor als in Indien.

Zur indischen und zur chinesischen Grenze

Wir sind von Kathmandu aus mit dem Taxi ein Stück durch das Land gefahren, so auch in Richtung auf die indische Grenze, über die einzige Verbindungsstraße zwischen Indien und Kathmandu. Das war eine herrliche Fahrt. Diese Gegend meines Heimatlandes war mir damals noch unbekannt gewesen. Es gab keine Fabriken, die die Landschaft hätten verunstalten können, nur Felder, eines neben dem anderen. Und überall waren die Leute bei der Reisernte. Zwischen den Feldern sah man von Zeit zu Zeit Bananenstauden. Irgendwann haben wir dann in einem kleinen Gasthaus an einem Flußufer am Wegesrand Rast gemacht. Dort haben wir uns eine Kleinigkeit zu essen gekauft. Es liefen mehrere kleine Jungen herum. Der Kleinste war der Kellner; er hat auch nachher bei uns kassiert. Die Wände des Gasthauses waren sehr schmutzig. Überall krabbelten Fliegen auf den Speisen und Lebensmitteln herum. Dicht am Haus floß der Fluß vorbei. Latrinen und Kanäle gab es natürlich nicht. Deshalb hatten die Leute ihre Bedürfnisse überall am Flußufer entlang erledigt. Man kann sich vorstellen, daß sich in der Umgebung ein nicht gerade angenehmer Geruch verbreitete. Andererseits gab es in solchen Gasthöfen alles zu kaufen, was Nepal an Eßbarem zu bieten hatte, auch Obst und chang, und natürlich auch selbstgebrannten Schnaps, arak, ein unwahrscheinlich scharfes Getränk. Es gab in der Nähe des Hauses auch eine Brücke. Diese war aber im Gegensatz zu den Brücken, die man sonst so im Lande antraf, ziemlich stabil; vielleicht waren irgendwelche Europäer oder Amerikaner an ihrer Planung und Konstruktion beteiligt gewesen. Typisch für die nepalische Berglandschaft ist ansonsten eine Art Hängebrückenkonstruktion, manchmal in Form von Kettenbrücken, wobei der aus schmalen Brettern bestehende Laufsteg, durch kurze Seile verbunden, an zwei Ketten hing, die quer über den Fluß gespannt waren. Man mußte schon schwindelfrei sein, um solche Brücken begehen zu können. Für Tiere, selbst für Hunde, waren sie unbrauchbar.

Auf der Rückfahrt fuhren wir dicht am Rande eines Steilhanges am Fluß entlang. Man glaubte oft, jeden Augenblick hinab in die reißenden Fluten zu stürzen. Nur von Zeit zu Zeit sahen wir ein Haus am Wegesrand stehen. In der Hauptsache handelte es sich dabei um Bauernhäuser. Ansonsten sah man nur terrassenförmig angelegte Felder, Felder über Felder – braune Erde, saftige Weiden, grünende Bäume. Unterwegs begegneten uns ein paar Tamang-Frauen. Durch die Nasen trugen sie goldene oder zumindest vergoldete Ringe. Dann wieder trafen wir ein paar hochkastige Hindus, erkennbar durch ihre roten Zeichen auf der Stirn. Die Haare hatten sie mit Ölkreide glattgekämmt, regelrecht plattgedrückt. Die Frauen trugen Armreifen, die vom Ellenbogen bis zum Handgelenk reichten. Wenn sie die Arme bewegten, dann klang das wie tausend Glöckchen. Es machte jedenfalls einen ziemlichen Krach.

Eine andere Fahrt führte uns von Kathmandu aus nach Norden bis zur chinesischen Grenze. Auch hier ging die Fahrt immer am Fluß entlang. Die Flußtäler boten in diesem zerklüfteten Gebirgsland nahezu die einzige Möglichkeit für den Bau von Straßen. Natürlich bestand hier immer die Gefahr, daß die Straße durch Überschwemmungen oder Bergrutsche von Zeit zu Zeit einmal beschädigt oder zumindest unbefahrbar wurde. Dann machten ein paar Leute mit ihren primitiven Werkzeugen, ein paar Hacken und Schaufeln, die Straße wieder glatt. Aber Stabilität erreichte sie auf diese Weise natürlich nicht, und man konnte fast mit Sicherheit annehmen, daß sie beim nächsten starken Regenfall wieder zerstört werden würde. Die Straße, auf der wir fuhren, war einige Jahre zuvor von den Chinesen von Lhasa, der Hauptstadt des von ihnen besetzten Tibet, bis nach Kathmandu gebaut worden. Die Fahrt nach Norden war noch weitaus faszinierender als jene in Richtung auf die indische Grenze. Jedenfalls gefiel sie mir noch besser. Aber vielleicht war das auch das innerliche Gefühl, meiner Heimat nun noch näher zu kommen. Die Gegend wurde mir – wenn auch vielleicht nur unbewußt – vertrauter. In meinem Innern wurden wieder die lebhaftesten Erinnerungen an meine Jugendzeit wach, die ich in diesem Hochgebirgsraum verbracht hatte. Ringsum gab es nun keine Felder mehr, wie es noch in Richtung Süden der Fall gewesen war. Überall umgab uns düsterer Dschungel, dazwischen wieder schroffe Felsen. Dann erreichten wir endlich die Grenze. Hier auf unserer Seite standen nepalische Soldaten und auf der anderen Seite, nur ein paar Meter entfernt, chinesische. Fotografieren war strengstens verboten, doch gelang es meinen deutschen Begleitern, dieses Verbot mit ein paar Tricks zu umgehen. Wir sahen, daß immer noch Händler die Grenze überquerten. Sie gingen tief gebückt unter den schweren Lasten, die sie auf ihrem Rücken trugen.

Heimkehr nach sieben Jahren

Und dann sollte endlich der Tag kommen, an dem ich wieder nach Hause fliegen konnte. Schon zwei Tage zuvor hatte ich keinen Bissen mehr essen können. Ich wußte meine innere Unruhe kaum noch zu bewältigen. Ich war gerade der Kindheit entwachsen, als ich Eltern und Heimat wie über Nacht verlassen und mich in ein mir doch vollkommen ungewisses Schicksal begeben hatte. Nun also sollte ich das alles endlich wiedersehen. Was war wohl aus den Daheimgebliebenen geworden? Ob die Menschen und die Ansichten wohl noch immer dieselben waren wie früher? Ob das Leben dort fernab von jeder modernen Technik und fremden Kultur noch immer in demselben Rhythmus ablief, den es schon seit Jahrhunderten befolgte? Doch ich mußte meine Ungeduld zügeln, wenn es mir auch noch so schwer fiel. Dann endlich kam der Tag, an dem wir mit einem kleinen Sportflugzeug in Richtung Himalaya schwebten. Unser Ziel waren die hohen Berge. Hier am Fuße – oder genauer gesagt in halber Höhe – der mächtigsten und höchsten Bergriesen der Erde war meine Heimat, mein Zuhause. Hier war ich geboren, hier war ich aufgewachsen, hier hatte ich meine Kindheit und Jugend verbracht. Es war schon ein unwahrscheinlich erhebendes Gefühl, als wir endlich in Kathmandu starteten. "Dort vorne, irgendwo in der Ferne", dachte ich bei mir, "dort muß deine Heimat sein." Wie die Wogen des Ozeans folgten Berg auf Tal und Tal auf Berg. "Dort unten, in einem dieser Täler", dachte ich mir, "dort müssen deine Verwandten wohnen, dort ist dein Heimatdorf." Das Flugzeug mußte ziemlich niedrig fliegen; für große Höhen war es nicht konstruiert. Deshalb flogen wir immer entlang der Täler oder dicht über den Bergkuppen des nepalischen Mittelgebirgsraumes dahin. Der halbstündige Flug kam mir wie eine Ewigkeit vor. Überall unter uns breiteten sich riesige Wälder aus. Unter den schräg einfallenden Sonnenstrahlen wirkte das Ganze wie eine einzige blaugrüne Fläche. Dann endlich landeten wir in Phaphlu auf der kleinen holprigen Piste, die ansonsten als Viehweide benutzt wurde. Ich holte ganz tief Luft, als ich aus dem Flugzeug kletterte. Zum ersten Mal atmete ich wieder die saubere, klare Luft meiner Heimat ein. Das war schon ein erhebendes Gefühl. Endlich war ich wieder zu Hause! Ich hatte im Verlauf der vergangenen sieben Jahre keinen Kontakt zu meinen Verwandten gehabt, ich hatte nichts von ihnen gehört oder gesehen. Zwar hatte ich über Dritte die eine oder andere Information erhalten, aber das waren alles belanglose Dinge gewesen, und die Nachrichten waren sehr selten und spärlich.

Nun gut, ich ließ halt einfach alles auf mich zukommen. Wir begaben uns als erstes von der Landepiste zum Dorf Phaphlu. Es war früher Nachmittag. Am Flugfeld hatte uns eine größere Gruppe von Leuten empfangen. Sie wußten schon, daß ein Flugzeug kommen würde. Es waren Angehörige unterschiedlicher Völkerschaften darunter: Sherpa, Tamang, Kami, tibetische Mönche und Nonnen. Als ich meinen Namen nannte, wußten alle sofort, wer ich war. Ich erkundigte mich als erstes nach dem Befinden meiner Eltern und Geschwister. Man sagte mir, daß es allen gut ginge, daß noch alle gesund und munter wären.

Dort oben im Himalaya feierte man gerade das tihar-Fest, es war, glaube ich, der Hundefesttag. Einige Leute zogen von Dorf zu Dorf und bekamen dann etwas Eßbares geschenkt. Vielleicht war dies einer der Gründe, daß wir im Dorf keine Träger bekommen konnten. Die Bevölkerung war zwar sehr arm und konnte jeden noch so geringen Geldbetrag dringend gebrauchen, aber das war nun halt ein Festtag, und da war nichts zu machen. Wir fanden keine Träger. Ich habe mich dann kurzerhand entschlossen, an diesem Tag schon alleine nach meinem Heimatdorf aufzubrechen. Ich konnte jedoch eine Nichte von Ang Dandi Lama und einen Tibeterjungen aus Phaphlu als Begleiter gewinnen. Die beiden unterhielten sich fast den ganzen Weg lang über Amerika; eine Schwester des Tibeterjungen namens Lhakpa war gerade nach vier Jahren aus Amerika zu Besuch gekommen. Wir hatten immerhin eine Entfernung von ca. 25 km, und das bergauf und bergab mitten durch den Wald auf unwegsamen Pfaden, vor uns. Aber ich war derartige Wanderungen, die für mich früher zum Alltag gehört hatten, wohl nicht mehr gewohnt. So hatte ich meine Kräfte doch ein klein wenig überschätzt. Dennoch raffte ich mich immer wieder auf, ich mußte ja weiter. Und mir des noch vor mir liegenden Weges bewußt ging ich dann immer schneller und schneller, quer über kleine Flüsse und über große Felsen hinweg. Ich hatte kaum einen Blick für die schöne Landschaft, die ich ja aus meiner Jugendzeit so gut kannte, für die herrlich blühenden Rhododendronbäume und das mannigfache Gezwitscher der Vögel. Ich ging einfach nur immer weiter. So gelangten wir dann schließlich nach Taljangma. Auch hier erkundigte ich mich wieder nach dem Befinden meiner Eltern. Doch anders als in Phaphlu teilten mir hier Bekannte mit, daß mein Vater vor zwei Jahren gestorben war. Das war natürlich ein großer Schock für mich. Ich fühlte mich ziemlich bedrückt, aber so recht glauben wollte ich diese Nachricht nicht. Und so eilten wir weiter, meinem Ziel entgegen.

Wiedersehen mit der Familie

Als wir den letzten hohen Paß vor meinem Heimatdorf, den Takshindu-Paß, überquerten, sah ich, daß die Sonne bald untergehen würde. Ich hatte unterwegs ständig Durst, und so trank ich an jeder kleinen Quelle am Wegesrand etwas Wasser. Das schmeckte dort im Himalaya einfach herrlich, natürlich besonders gut, wenn man großen Durst hatte. Ich wußte aus meiner Kindheit, daß das Wasser dort noch vollkommen rein war, daß es noch nicht verschmutzt war durch die Menschen. Als Folge meines vielen Trinkens mußte ich dann bei meinem anstrengenden Fußmarsch auch tüchtig schwitzen. Am Kloster jenseits des Takshindu-Passes angekommen traf ich ein paar Nonnen. Eine von ihnen spann gerade Wolle. Ich sah sie an, sie sah mich ebenfalls an. Ich hatte großen Hunger und wollte sie daher bitten, mir etwas zu essen zu geben. Aber da dachte ich bei mir: "Diese Frauengestalt kennst du doch!" Doch ich bekam kein Wort über die Lippen. Wir starrten uns gegenseitig an und dachten wohl beide, daß wir uns irgendwie kennen mußten. Da kam mir plötzlich in den Sinn, daß diese Frau vor mir vielleicht meine Tante, die jüngere Schwester meines Vaters, wäre. Ich nannte ihren Namen, und siehe da, sie war es. Sie streckte mir ihre Zunge zum Zeichen des Erstaunens heraus, zog mich in ihre Arme und drückte mich an ihr Herz. Sie freute sich sehr, mich endlich wiederzusehen, hatten wir früher doch so viele Dinge gemeinsam unternommen. Doch dann hatte sie weniger gute Nachrichten für mich. Opa und Oma, ihre Eltern, waren gestorben. Darüber war sie noch sehr traurig. Sie bestätigte auch, daß mein Vater gestorben war. Nun war es also gewiß. Das alles zu hören, war natürlich weniger erfreulich für mich. Doch ich konnte mich nicht lange dort im Kloster aufhalten. So entschloß sich meine Tante kurzerhand, mich nach Hause zu begleiten. Unterwegs hatte sie dann unzählige Dinge zu erzählen, die für mich äußerst wichtig waren, deren Inhalt hier jedoch weniger interessieren dürfte. So erzählte sie insbesondere auch über ihr Leben als Nonne. In diesem Zusammenhang meinte sie, ich solle für sie sorgen, sie sei ja nun schon alt.

Die Dämmerung brach schon herein, als wir tief unten in der Schlucht unterhalb meines Heimatdorfes ankamen. In den tief eingeschnittenen Tälern des Himalaya bricht die Dunkelheit natürlich besonders früh und abrupt herein. So war es bereits stockfinstere Nacht, als wir endlich zu Hause ankamen. Als ich zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder mein Elternhaus betrat, erhaschte mein erster Blick nichts als kleine Kinder. Mindestens zehn hockten dort in der Stube zusammen. Es waren alles unbekannte Gesichter; niemand war darunter, der mir im entferntesten bekannt vorkam. Umgekehrt war die Lage natürlich nicht besser: es war auch niemand darunter, der mich kannte. Da habe ich dann einfach gefragt, wo Mutter wäre. Ich erhielt zur Antwort, Mutter wäre arbeiten. Dann erkundigte ich mich danach, was das denn alles für Kinder wären, die sich dort im Haus versammelt hatten. Es stellte sich heraus, daß es sich unter anderem um zwei kleine Schwestern von mir handelte, die während meiner Abwesenheit geboren worden waren, sowie um eine weitere Schwester, die damals, als ich nach Deutschland ging, vielleicht drei Jahre alt gewesen war. Letztere war mittlerweile auch schon groß geworden und sehr hübsch. Die gesamte Kinderbande war gerade dabei, das Abendessen zu kochen. Die drei kleinsten, darunter meine jüngste Schwester und der jüngere Sohn meines Bruders, weinten. Sie waren gerade so groß, daß sie laufen konnten. Ihr Beitrag zum Kochen ging natürlich nicht weit über dieses Weinen hinaus. Die etwas größeren jedoch waren eifrig bei der Arbeit. Sie kochten gerade Kartoffeln und steckten ständig neues Holz in den Ofen.

Ich bin dann mit meiner Tante noch weiter durch das Dorf gegangen, in Richtung auf die Felder meiner Eltern. Da kamen uns unterwegs im Dunkeln drei Frauen entgegen – bezeichnenderweise alles Witwen, wie sich später herausstellte –, nämlich meine Mutter, eine alte Freundin von mir und eine weitere Frau aus dem Dorf. Fast hätte ich meine Mutter nicht wiedererkannt. Dann habe ich mich vorgestellt: "Ich bin deine Tochter Lhakpa!" Für ein paar Sekunden erhielt ich keine Antwort. Sie war wie erstarrt. Das war so überraschend für sie. Schließlich hatte sie mich nicht erwartet; ich hatte ja nie Briefe geschrieben. Doch als sie sich wieder etwas gefaßt hatte, strahlte sie über das ganze Gesicht. Und sie erzählte mir, daß sie vor etwa zwei Monaten einen Traum gehabt habe, und zwar habe sie geträumt, ich sei nach Hause zurückgekehrt. Von diesem Traum habe sie auch anderen Leuten erzählt. Das waren ihre ersten Worte. Sie trug einen riesigen Heuhaufen auf dem Rücken. Ich sagte ihr, sie solle nicht so schwere Lasten schleppen; sie bekäme wegen ihres Kropfes ja sowieso schon schlecht Luft. Meine nächstjüngere Schwester, Passi, war noch bei dem Vieh meiner Mutter. Sie mußte aufpassen, daß nicht nachts ein Leopard oder ein anderes Raubtier kam und ein Tier riß. Ich erklärte, daß ich auch sie gerne sehen wollte. Und so machte ich mich mit meiner Tante dorthin auf den Weg. Als ich bei meiner Schwester ankam, sagte ich zu ihr: "Na, kennst du mich?" "Ja, ja", sagte sie, "ich kenne dich". Sie trug Jungenkleidung. Ich fragte sie nach dem Grund dafür. Ich erinnerte mich nämlich an meine Kindheit. Damals war ja auch ich in Jungenkleidung herumgelaufen, weil mein Vater mich immer als Sohn ausgab. Ich hatte darin ausgesehen wie ein Clown. Passi trug diese Kleidung jedoch nur wegen der Bequemlichkeit.

Es gibt viel zu erzählen

Wir sind noch am gleichen Abend nach Yawa zurückgegangen oder genauer gesagt gekrabbelt – wegen der Dunkelheit konnte man den Weg nämlich kaum noch erkennen –, und Passi nahmen wir mit. Auf einmal überkam mich die Furcht vor irgendwelchen wilden Tieren, die uns hier in der Dunkelheit anfallen könnten, Leoparden, Schlangen, Bären usw. In meiner Kindheit mochte ich vielleicht abergläubig gewesen sein, aber Angst vor der Natur hatte ich nie gekannt. Nun hatte ich vielleicht einiges von dem Aberglauben abgelegt, dafür aber überfiel mich die Angst vor wilden Tieren und ähnlichen Gefahren. Das mag seltsam klingen, spricht aber für sich. Ich schätze, daß der Aberglauben, der vielen Angehörigen meines Volkes nachgesagt wird, die Furcht vor den Gefahren der Natur weitgehend im Keime erstickt. Dazu gehört nicht nur die Angst vor wilden Tieren, sondern auch die vor Krankheiten, Bakterien und dergleichen. Nun brauchte nur ein Frosch zu quaken, schon schoß mir der Schreck in die Glieder. Ich dachte immer sogleich, es könnte ein Leopard sein. Aber wir sind dann schließlich doch heil und unbelästigt wieder im Dorf angekommen. Dort hatte sich mittlerweile fast die gesamte Verwandtschaft in unserem Haus versammelt. Ich wußte nicht so recht, wie ich mich mit all den Verwandten und Bekannten unterhalten sollte, denn ich war anfangs ein wenig gehemmt. Ich hatte das Gefühl, meine Muttersprache, die Sherpa-Sprache, etwas vergessen zu haben. Aber vielleicht lag das daran, daß sich mein Alltagssprachschatz gewandelt und erweitert hatte, so daß mir nun oft die passenden Sherpa-Worte fehlten. Sieben Jahre waren ja schließlich eine sehr lange Zeit. Ich war gerade gut der Kindheit entwachsen, als ich die Heimat verlassen hatte, und in der ganzen Zeit hatte ich kein einziges Mal die Gelegenheit, mit irgendjemandem ein paar Worte in meiner Muttersprache zu wechseln. Daher versuchte ich nun meistens, Nepali zu sprechen. Diese Sprache war mir etwas geläufiger. Schließlich hatte ich in Kathmandu eine Woche Zeit gehabt, mich wieder an sie zu gewöhnen. Vor allem aber muß ich zugeben, daß ich auch schon in meiner Kindheit lieber Nepali als die Sherpa-Sprache gesprochen habe.

Die Leute waren sehr neugierig. Sie wollten viel darüber erfahren, wie es in Europa aussähe, wie dort das Leben wäre. Anfangs herrschte überall ein riesiger Jubel, weil ich zurückgekommen war. Man betrachtete es geradezu als ein Wunder. Man hatte schon gedacht, ich wäre gestorben oder umgebracht worden. Die meisten Mädchen, die Familie und Dorf verlassen und sich nach Indien begeben hatten, waren nie wieder zurückgekehrt. Sie waren vermutlich längst dort verheiratet oder verstorben. Es wurden Witze gerissen und sehr viel erzählt. Alle Frauen wollten von mir über Empfängnisverhütung informiert werden. Ich entgegnete, daß ich darüber nicht näher Bescheid wisse, ich sei schließlich kein Arzt. Andere wiederum fanden es schön, daß meine Hautfarbe etwas heller geworden war; daß ich so dünn war, das konnte die Leute weniger begeistern. Nach ihrer Meinung waren Körperfülle und helle Haut ein weibliches Schönheitsideal.

Und dann kam die erste Nacht, die ich wieder zu Hause verbringen sollte. Es war für mich schon eine gewaltige Umstellung, mich jetzt wieder an diese einfache Schlafstätte zu gewöhnen. Auf dem Boden wurde ein großes Kuhfell ausgebreitet, darauf legten wir – das waren insgesamt neun Mädchen – uns und deckten uns mit einer einzigen großen Decke zu. Anfangs ekelte ich mich etwas vor dem Schmutz. Vor allem hatte ich Angst, ich könnte dort auf dem Boden zwischen den anderen Mädchen Läuse bekommen. Irgendwann um Mitternacht hat dann zu allem Überfluß auch noch eine meiner kleinen Schwestern gepinkelt, so daß das ganze Kuhfell naß war. Die anderen Leute hockten noch stundenlang um das Feuer herum, unterhielten sich und tranken chang. Ich konnte natürlich nicht sagen, sie sollten still sein, das wäre ja unhöflich gewesen. Daher war für mich an Schlaf nicht zu denken, obwohl ich diesen nach dem anstrengenden Tag besonders dringend gebraucht hätte. So lauschte ich gezwungenermaßen noch lange den Erzählungen. Von Zeit zu Zeit kochten sich die Leute noch etwas zu essen auf dem Feuer. Die Fenster waren wegen der Kälte mit Papier, Stroh oder Flechtwerk zugestopft – Fensterscheiben gab es damals im Gebirge noch nicht. Die Tür war ebenfalls fest verschlossen. Kamine waren in Sherpa-Häusern fremd. Somit war es klar, daß sich der ganze Rauch des Feuers in dem kleinen Raum ansammelte. Da diese Situation für alle Sherpa-Häuser gleich zutreffend war, leuchtete es mir ein, warum die Sherpa fast ständig unter Augenentzündungen zu leiden hatten. Besonders hart getroffen schien mein älterer Bruder zu sein. Seine Augen waren dick rot angeschwollen, so daß er kaum noch sehen konnte. Ich forderte ihn daher auf, er solle doch nicht auch noch zusätzlich rauchen. Das sei für seine Augen sicher nicht gut. Aus Höflichkeit hörte er dann damit auf, aber sobald ich ihm den Rücken zukehrte, qualmte er eifrig weiter.

Passi wollte noch des nachts wieder zurück zu den Tieren auf die Weide gehen, um sie vor wilden Tieren zu schützen. Aber ich sagte ihr, sie solle nicht gehen. Wenn ein Leopard käme und ein Tier risse, so würde ich dasselbe bezahlen. Passi blieb dann auch tatsächlich im Dorf und sagte: "Ich habe ja eine reiche Schwester!"

Ungekannte Konditionsmängel

Am folgenden Morgen brachen wir ganz früh auf. Ich schätze, es wird noch vor sechs Uhr gewesen sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher, da ich trotz der langen Zeit in Europa keine Uhr bei mir hatte. Es wurde jedenfalls gerade hell, als wir aufstanden. Zum Frühstück machten wir uns Bohnen warm. Das dauerte eine Ewigkeit Das Holz war nämlich sehr feucht und wollte nicht brennen. Da kletterte ich einfach auf das Dach und holte von dort ein Stück trockenes Holz, damit es etwas schneller ging. In der Stube sammelte sich schon wieder eine ganze Menge Rauchschwaden an, so daß die Augen brannten. Daher kletterte ich kurzerhand erneut auf das Dach und schob einfach ein paar Bretter zusammen, mit denen das Dach gedeckt war, wodurch im Dach ein großes Loch entstand. So konnte der Rauch schön nach oben abziehen. Ich war mir natürlich bewußt, daß dies keine Dauerlösung sein konnte, vor allem dann nicht, wenn es regnete. Aber für den Augenblick schien es mir sehr angebracht. Man konnte den Rauch in der Wohnung nämlich kaum noch ertragen. Deshalb hatte ich eine solche Wut und ließ mich zu dieser Handlung hinreißen.

Dann war endlich der Hunger gestillt, und wir konnten uns auf den Weg machen. Ich hatte nun ein paar starke Begleiter gefunden, zwei bis drei Vettern, einen Onkel und meinen älteren Bruder. Mein jüngerer Bruder, zu dem ich in der Kindheit und Jugend eine besonders enge Beziehung gehabt hatte, war leider in Indien beim Militär; ich sollte ihn erst vier Jahre später wiedersehen.

So brachen wir auf. Es gesellte sich schließlich noch der eine oder andere hinzu, so daß ich letztlich acht Begleiter hatte, die helfen wollten, das Gepäck zu tragen. Als wir dann endlich oben auf der Paßhöhe ankamen, hatten wir bereits einen Marsch von über drei Stunden hinter uns, waren von 2500 m auf etwa 2000 m hinab- und dann wieder auf 3100 m hinaufgestiegen. Ich fühlte mich bereits jetzt unwahrscheinlich müde, und mir wurde immer bewußter, daß ich die harten Lebensbedingungen in meiner Heimat nicht mehr gewohnt war. Die langen Jahre in Europa hatten mich doch offensichtlich sehr verweichlicht. Hinter dem Paß war der Weg dann wieder etwas angenehmer. Bereits in Taljangma trafen wir auf meine drei deutschen Begleiter, die ich in Phaphlu zurückgelassen hatte. Sie wurden von zwei Jungen geführt, die ein paar Worte Englisch sprachen. Wir konnten uns jedoch nicht lange bei ihnen aufhalten, gingen weiter nach Phaphlu, um das Gepäck zu holen. Wir schafften bis zum Abend den Weg auch wieder zurück bis Ringmo.

Bei mir machten sich jetzt neben meiner Müdigkeit zu allem Überfluß auch noch Halsschmerzen bemerkbar. Sie steigerten sich allmählich ins Unerträgliche. Wir hatten eine Flasche selbstgebrannten Schnaps, arak, dabei. Ein paar Schlucke daraus konnten die Schmerzen aber nur geringfügig lindern. Ich gab auch den Trägern etwas ab; schließlich hatten sie ja schwere Lasten zu schleppen. Das hatte sie aber nicht daran gehindert, während des ganzen Weges ununterbrochen ihre Lieder zu singen. Meist waren es lustige Lieder über Sonne, Sterne, Mond, den Schatten der Bäume, über den Weg der Wolken am Himmel usw.. Ich erinnere mich insbesondere noch an ein Lied, das folgenden Inhalt hatte: Eine Frau hat einen Liebhaber, und dieser Liebhaber kommt immer dann, wenn der Ehemann gerade nicht zu Hause ist. Eines Tages aber kam er an, als der Ehemann noch im Haus war. Da hat die Frau gesungen: "Kindesvater ist zu Hause." Und dabei spielte sie mit dem Kind. Sie sang weiter: "In den Brennesseln ist Schnaps." Er solle denselben trinken und wieder nach Hause gehen.

In Ringmo übernachteten wir auf einem ganz einfachen Holzbrett. Wir hatten schlecht organisiert, und so hatten wir noch nicht einmal ein paar Decken mitgenommen, um uns zuzudecken. Meine Verwandten stellten sich etwas geschickter an. Ihnen waren die Holzbretter zu hart zum Schlafen. Deshalb legten sie sich ins Heu. Das hätte ich besser auch tun sollen, dann hätte ich in der Nacht nämlich nicht so gefroren. So hatte ich nur die Kleidung, die ich auf dem Leibe trug, und das war nicht gerade viel in einer kühlen Himalaya-Nacht. Gegen Mitternacht spürte ich schon, wie meine Halsschmerzen immer schlimmer und schlimmer wurden. Schließlich bekam ich auch noch eine Magen- und Darmverstimmung dazu. Vor der Abreise am nächsten Morgen ging es dann noch ans Bezahlen. Da waren die Wirtsleute jedoch nicht sonderlich kleinlich, sondern verlangten einen unwahrscheinlich hohen Preis. Gegenüber Europäern oder Amerikanern war das so üblich. Und da wir uns in Begleitung von drei Deutschen befanden, fielen auch wir unter den Begriff Europäer und hatten somit den gleichen Wucherpreis zu zahlen wie diese. Für das Essen und Trinken unserer ganzen Mannschaft verlangten sie sage und schreibe 100 Rupien von uns. Da mußte ich daran denken, daß wir früher nicht einmal drei oder vier Rupien besessen hatten, um unsere Steuern zu bezahlen. An diesem Tag liefen wir nur bis zum Kloster jenseits des Passes. Weil sich meine Krankheit derart verschlechtert hatte, wollten wir dort bei meiner Tante zweimal übernachten.

Mir war mittlerweile so elend, daß ich am liebsten geheult hätte. Es kündigte sich nun auch noch ein Wetterumsturz an. Mit dem schönen Ausblick der vergangenen Tage war es vorbei. Sämtliche Berggipfel verkrochen sich hinter dichten Wolkenmassen, und auch in den Tälern machte sich allmählich Nebel bemerkbar. Kurz vor Takshindu begegneten wir einem buddhistischen Mönch, der gerade zusammen mit einer Schar von Helfern damit beschäftigt war, einen chorten (stupa) mittlerer Größe, der hier am Weg stand, zu restaurieren. Wir kamen mit ihm ins Gespräch, und er bot uns an, in seinem Haus zu übernachten. Dieses Angebot nahmen wir recht gerne an. Für Essen und Trinken sollte ebenfalls gesorgt sein. Doch dieses freundschaftliche Verhältnis wurde etwas getrübt, als der Mönch sah, daß zwei meiner deutschen Reisebegleiter rauchten. Dies war nach Ansicht des Mönches in dem Zimmer, in dem sich sein Hausaltar befand, einfach undenkbar. Er sah es geradezu als eine Beleidigung der Götter an. Selbstverständlich könnten wir bei ihm wohnen bleiben, geraucht werden dürfe jedoch nicht. Damit waren allerdings meine Begleiter nicht einverstanden, so daß wir uns nach einem anderen Quartier umsehen mußten. Wir hätten natürlich auch im Haus meiner Tante übernachten können, doch standen wir dort vor dem gleichen Problem. Sie bot uns zwar an, im Erdgeschoß zu übernachten, doch war das bei der vorherrschenden Witterung ein wenig zu kalt. Überall waren die Schwierigkeiten dieselben. Schließlich fanden wir Unterkunft bei zwei alten Leuten. Sie hatten sich ganz zurückgezogen und füllten die letzten Tage ihres – wie man an den zerfurchten Gesichtern sehen konnte – sicherlich nicht leichten Lebens mit ständigem Gebet aus. Sie hatten zwar auch einen kleinen Hausaltar, hatten jedoch nichts gegen das Rauchen einzuwenden. Die beiden Alten waren sehr fromm, sie waren aber nicht Mönch oder Nonne. So übten sie neben ihrem Beten auch noch andere Tätigkeiten aus. In den Händen der Frau ruhte die ganze Hausarbeit, während er sein Tagewerk mit Gartenarbeit, Holzhacken und dem Ausbessern der Dorfstraßen ausfüllte. Letzteres hat übrigens einen weitergehenden Sinn. Nach buddhistischer Auffassung erwirbt sich der so Handelnde Verdienste für seine zukünftige Wiedergeburt.

Mit meiner Krankheit wurde es überdies immer schlimmer. Mir war ganz schwindlig im Kopf. Außerdem tat mir der Hals so weh, daß ich kein Wort mehr reden konnte. Die einzige Möglichkeit, mich noch den anderen gegenüber verständlich zu machen, waren Fingerzeichen. Ein ganz besonderer Nachteil war dieser Umstand für die mit mir reisenden Deutschen, da sie kein Wort Sherpa-Sprache oder Nepali verstanden. Aber wenn die Halsschmerzen auch noch so stark waren, so konnten sie mich doch nicht davon abhalten, alle möglichen äußerst scharf gewürzten Speisen zu essen, z.B. trockenes Fleisch und Mehlklumpen. Nach zwei Tagen kam dann mein Onkel, der minung (Schamane), um die bösen Geister aus meinem Körper zu vertreiben. Ich mußte während seiner Zeremonie beten. Und so unglaublich es für europäische Ohren auch klingen mag, ich bin danach wieder gesund geworden. Es ist natürlich auch möglich, daß das Penicillin, das ich zuvor genommen hatte, endlich und zuletzt doch noch gewirkt hat, vielleicht aber auch nur mit Hilfe meines Onkels Chechang Che.

Anschließend haben wir uns dann trotz meiner starken Erkrankung wieder auf den Weg gemacht. So ging es dann von Takshindu bergab in Richtung Chulemo. Während der gesamten Wegstrecke wurde ich von meinem Bruder bzw. von meinen Vettern getragen. Sobald wir jedoch in die Nähe einer Ortschaft kamen, mußte ich auf eigenen Füßen laufen, da sich meine Verwandten sonst zu sehr schämten. In Chulemo wohnte die älteste Schwester meiner Mutter, die bereits tagszuvor vor Freude geweint hatte, als sie mich sah. In ihrem Haus bekamen wir Milch, gebackenen jungen Mais und gebratenen Salat. Da meine Tante den Kamin nie sauber gemacht hatte, klebte eine dicke Rußschicht an den Wänden, und davon war beim Kochen einiges in den Topf gefallen, so daß eine richtige Brühe entstand. Früher, in meiner Kindheit, war das auch nie besser gewesen, aber da hatte ich die Milch immer so getrunken, ohne Anstoß daran zu nehmen. Jetzt fiel mir sofort auf, daß so viel Schmutz darin war. Wir haben die Milch aber trotzdem getrunken.

Im Dorf

Wir machten uns dann jedoch sehr bald wieder auf den Weg. Sobald wir die Ortschaft hinter uns gelassen hatten, wurde ich von den Anverwandten wieder getragen. Endlich kamen wir im Tal an. Nachdem wir die Brücke des Yawa Tsangbu überquert hatten, machten wir Rast. Der Fluß floß hier mit starkem Getöse zu Tal. Doch unsere Rast sollte nicht sehr lange dauern; bald ging es wieder weiter auf die schon beschriebene Weise, diesmal jedoch bergauf. Als wir uns dann endlich Yawa näherten, stand am Wegrand eine Tante von mir mit chang und tanzte wie bei einer Hochzeit. Man bezeichnet das als yangdzi (Begrüßungstrunk). Oben im Dorf wartete schon eine ganze Horde Menschen auf uns. Es hatte sich allmählich in der Umgebung herumgesprochen, daß Lhakpa wieder nach Hause zurückgekehrt war.

Als erstes wurden nun die Sachen verteilt, die ich aus Europa mitgebracht hatte. Es handelte sich dabei in der Hauptsache um gebrauchte Kleidungsstücke; jeder bekam etwas zum Anziehen. Natürlich war längst nicht alles aus Europa. Das war schon allein wegen der Gewichtsbestimmungen des Gepäcks im Flugverkehr nicht möglich, obgleich auch die mit mir reisenden Deutschen Sachen von mir in ihrem Gepäck verstaut hatten. Aber ich hatte dann auch noch eine ganze Menge Kleidungsstücke in Kathmandu gekauft: Hosen, Jacken, Röcke, alles Dinge, die man hier im Gebirge gut gebrauchen konnte. Ich merkte auf einmal, daß die übrigen Verwandten ziemlich böse und verärgert wurden, weil sie nichts bekamen, sondern nur meine Eltern und Geschwister. Ich habe dann einfach so getan, als würde ich nichts verstehen. Es wäre absolut unmöglich gewesen, diesen Leuten die Gründe für mein Verhalten, für die Unmöglichkeit der Erfüllung ihrer Wünsche, zu erklären.

Wir blieben die folgenden beiden Tage in Yawa. Gesundheitlich ging es mir nun von Tag zu Tag auch wieder merklich besser. Das Penicillin und mein Onkel, der minung, hatten geradezu Wunder bewirkt. Außer der Kleidung hatte ich auch die verschiedensten Pflanzensamen aus Europa mitgebracht, in der Hauptsache Salat, Möhren und allerlei Kohlsorten. Diese Samen verteilte ich unter den Leuten, und wie ich später von meiner Schwester Passi erfahren sollte, waren diese Samen gut angewachsen und prächtig gediehen. Ich war innerlich richtig stolz, auf diese Weise etwas zur Bereicherung der Gemüsesorten in meinem Heimatdorf beigetragen zu haben.

An den Abenden, an denen ich in Yawa war, gab es natürlich Unmengen zu erzählen. Die Leute gingen daher bis spät in die Nacht hinein nicht nach Hause. Mein Bruder Gyaltsen, der handwerklich recht gut begabt ist, hatte aus ein paar Brettern drei schmale Bettstellen gezimmert, auf denen wir schlafen konnten. Auf dem Boden wurde überall Heu ausgestreut, so daß der ganze Raum noch etwas wärmer wurde. Eigentlich war dieser Raum der Wohnraum meines älteren Bruders und seiner Frau. Da diese jedoch monatelang auf den Sommerweiden oben im Gebirge gewesen waren, hatte man hier drei Ziegen untergebracht, damit diese des Nachts nicht von Leoparden gerissen werden konnten. Es war natürlich klar, daß der Raum nun sehr stark nach Ziegen stank. So wurde der Ziegenstall zu unserem Quartier, in dem die Deutschen und ich übernachteten. Das war sehr vorteilhaft für uns, da dieser Raum durch eine Trennwand vom Wohnraum meiner Mutter getrennt war, wo die engere und weitere Verwandtschaft die ganze Nacht über zusammensaß und sich mehr oder weniger laut unterhielt. Wir jedoch konnten derweil in Ruhe schlafen. Die Mauern des Zimmers waren ungewohnt kalt und kahl. Von nebenan drang manchmal Gesang zu uns herüber. Wir bekamen auch von Zeit zu Zeit etwas zu essen, meist Pellkartoffeln. Nachts bin ich wegen Magenschwierigkeiten ein paarmal vor die Tür gegangen. Während der Nacht hörte ich einige Male das Geschrei von kleinen Kindern. Als sich dann schließlich der Morgen näherte, wurde nach und nach die ganze Tierwelt wach. Hunde bellten, Hähne krähten, Hühner gackerten; für meine empfindsam gewordenen Ohren war das alles ein riesiger Krach.

Ich bin schließlich aufgestanden und zur Quelle hinuntergegangen, um mich zu waschen. Damit waren meine Verwandten jedoch nicht ganz einverstanden. Sie sagten, ich würde auf diese Weise die Quelle verschmutzen. Die lu, die Wassergeister, wären dann verärgert, und mir würden alle möglichen Krankheiten drohen. Früher war mir das alles geläufig gewesen, aber ich hatte mittlerweile so viel vergessen ... . Ich durfte mich jedenfalls nicht an der Quelle waschen, sondern lediglich Wasser mit einem Eimer holen und mich abseits der Quelle reinigen. Dazu war ich natürlich etwas zu faul und habe mir daher nur das Gesicht gewaschen. Das Endergebnis war, daß ich mich vierzehn Tage lang überhaupt nicht gewaschen habe. Für europäische Ohren mag das unglaublich klingen, die einheimischen Sherpa jedoch legen nicht so viel Wert auf diese äußere Reinheit. Ich wusch mir lediglich das Gesicht und spülte den Mund kurz aus – das war alles. Mein Verhalten war also in diesem Punkt wieder genauso wie früher in meiner Kindheit.

Es wurde auch am nächsten Tag wieder viel erzählt. Eines der Hauptthemen war der grausame Tod meines Vaters. In jenem Jahr war die Ernte sehr schlecht gewesen. Es herrschte große Trockenheit. Und da es nicht so viel zu essen gab, war alles sehr teuer. Da es aber nun einmal üblich war, beim Ableben ein kostspieliges Totenfest zu veranstalten, hatte meine Mutter eine Menge Schulden machen müssen, teilweise bei meinen Onkeln, teilweise aber auch bei einem reichen Mönch von Takshindu. Diese Schulden hatte sie immer noch nicht zurückzahlen können. Daher habe ich alles Geld, das ich bei mir hatte, dagelassen. Das einzige, was ich noch besaß, war sozusagen das, was ich auf dem Körper trug, Pullover, Hose, Schuhe, Schlafanzug und Anorak. Ansonsten ließ ich alles dort zu Hause. Die Heimreise konnte ich mit leeren Koffern antreten. Dennoch übte Mutter weiterhin einen sehr großen Druck auf mich aus und wollte immer noch mehr von mir haben.

Meine ganz kleine Schwester, Dali, war besonders süß. Sie fragte dauernd: "Wann geht die fremde Frau wieder weg?" Sie wollte ständig mit dem Portemonnaie spielen; das Geld selbst interessierte sie nicht.

Eine Bekannte kam mit ihrem Kind angeschleppt. Dieses war über und über mit Pocken bedeckt und weinte ständig. Wir haben Salbe auf die Pocken getan und einen Verband angelegt. Es kamen natürlich auch noch viele andere Leute, die alle irgendwelche Medikamente haben wollten. Sie erzählten dann, zu Hause hätten Mutter, Vater, Frau, Schwester, Kinder oder wer weiß ich diese oder jene Schmerzen oder Beschwerden. Andere wiederum klagten über irgendwelche Krankheiten ihrer Tiere, z.B. daß eine ihrer Kühe irgendeine Augenkrankheit habe usw. Meine deutschen Reisebegleiter hatten jedenfalls genügend Gelegenheit, sich recht erfolgreich als Krankenpfleger und dergleichen zu betätigen. Das war natürlich eine gute Möglichkeit für sie, die Herzen der Leute zu gewinnen.

Erneuter Abschied

Als dann schließlich die Zeit für den Abschied kam, bat meine Mutter, ich solle doch noch wenigstens einen Tag länger bleiben. Aber das war natürlich unmöglich, da wir sonst das Flugzeug verpaßt hätten. So bin ich gegangen, wie ich gekommen war. Das schöne Wetter war nun auch endgültig vorbei. Es breitete sich immer mehr Nebel aus. Wir gingen auf dem gleichen Wege zurück, den wir auch als Hinweg benutzt hatten. Meine innere Stimmung war nun natürlich etwas seltsam. Ich kann sie gar nicht so recht beschreiben. Meine Gedanken drehten sich wie im Kreise. All die vielen Ereignisse der letzten Tage, die Freude des Wiedersehens, meine Krankheit, der schnelle Abschied, das alles ließ sich nicht in wenigen Minuten verarbeiten. Ich brauchte schon etwas mehr Zeit dazu. So befand ich mich mit gemischten Gefühlen auf dem Rückweg. Die meist nebelverhüllte Umgebung nahm ich nur so nebenbei, fast im Unterbewußtsein, wahr. Nur manchmal wurde ich in die Gegenwart zurückgerufen, beispielsweise durch das schrille Kreischen der Affenherde, der wir unten im Tal begegneten. Mit Mühe und Anstrengung ging es dann wieder hinauf zum Takshindu-Paß. Unterwegs kauften wir etwas chang. In Chulemo aßen wir bei Verwandten ein paar Kartoffeln. Gegen Abend gelangten wir dann wieder in Takshindu an. Hier befanden wir uns mitten in den dichtetsten Wolkenschichten. Es war so neblig, daß wir keinen Meter weit sehen konnten. Die ganze Welt schien im Dunst zu ersticken. Wir haben dort in Takshindu übernachtet. Ich habe zusammen mit meiner Schwester Passi auf einer Lagerstatt geschlafen. Sie und unser Bruder Gyaltsen begleiteten uns nämlich bis zum Flughafen in Phaphlu. Bezüglich der Mönche und Nonnen in Takshindu hatte ich den Eindruck, daß sie neuerdings überhaupt nicht mehr beteten. Sie arbeiteten fast ununterbrochen. Wenn ich mich so an meine Kindheit erinnere, so meine ich, daß die Mönche und Nonnen damals das Arbeiten ganz klein schrieben und den Tag fast ausschließlich im Gebet verbrachten. Jetzt aber gab es nur noch wenige, die den ganzen Tag über beteten oder einige Jungen unterrichteten. Zu diesen wenigen frommen Menschen gehörten auch die beiden alten Leute, bei denen wir wieder übernachteten. Diese saßen wirklich fast den ganzen Tag da, mit dem Rosenkranz in der Hand im Gebet versunken. Jede zweite Minute murmelten sie ihr "Om Mani Padme Hum". Es stellte sich jetzt heraus, daß auch die alte Frau gesundheitliche Probleme hatte; sie litt unter Würmern und mußte sich häufig übergeben.

Wir haben auch meiner Tante die Schulden gezahlt für alles, was wir verzehrt hatten. Sie und die Nonne, mit der sie zusammenlebte, wollten beide unbedingt mit uns nach Europa kommen. Sie sagten: "Ach, wenn morgen das Flugzeug kommt, dann könnt ihr uns doch mitnehmen." Wir hatten ziemliche Mühe, ihnen diesen Gedanken auszutreiben. Am nächsten Tag ging es dann weiter nach Phaphlu. Dort übernachteten wir im Haus von Ang Geli Lama. Er war ziemlich reich und hatte mehrere Diener in seinem Haus beschäftigt.

Auch während unseres Aufenthalts in Phaphlu war das Wetter sehr schlecht. Es zeigten sich einfach keine Anzeichen für eine Wetterbesserung. Und am nächsten Tag sollte doch bereits das Flugzeug aus Kathmandu kommen und uns abholen. So standen wir den ganzen Tag über am Rande des kleinen Landeplatzes im kalten Wind und Regen und froren und schnatterten. Aber für den Piloten war es natürlich unmöglich, bei diesen schlechten Witterungsverhältnissen den Weg durch die engen Gebirgstäler des Himalaya zu finden. Gegen Abend sind wir dann wieder ins Dorf zurückgegangen, weil wir uns sagten, daß jetzt doch kein Flugzeug mehr käme. Wir übernachteten dort nun bei Kancha Bahadur Lama und seiner Frau. Zwei ihrer Söhne waren nach Tibet gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Ein dritter Sohn wohnte in Kathmandu. Damit die alten Leute nicht so einsam waren, hatten sie einen Enkel und eine Enkelin, zwei Kinder ihrer Tochter, bei sich aufgenommen. Opa und Oma waren mit den Enkelkindern alleine zu Hause. Auch diese alten Leute waren sehr fromm. Wir kauften ein paar Kartoffeln von ihnen. Nach dem Essen haben meine Geschwister und ich etwas gesungen. Bald stimmten auch die Bewohner des Hauses mit ein. Wir waren nicht die einzigen Gäste. Es befanden sich auch noch ein paar junge Italiener dort. Diese ganze Menschenmenge legte sich dann später kreuz und quer im Zimmer zum Schlafen nieder. Erfreulich an diesem Haus war, daß sich die Leute eine Wasserleitung bis vor die Haustüre gelegt hatten, was damals im Gebirge noch äußerst selten war.

Am nächsten Morgen sind wir gleich wieder hinauf zum Flugfeld gelaufen. Heute war das Wetter etwas besser, und wir brauchten nicht sehr lange zu warten. Nach ein paar Minuten tauchte das Flugzeug auf. Meine Schwester sagte zu mir, ich solle aber ganz bestimmt wiederkommen. Sie umklammerte mich ganz fest, als das Flugzeug kam, ganz entgegen aller Sherpa-Sitten. Ich mußte schnell einsteigen. Der Pilot war sehr unfreundlich. Wir dachten, er würde uns alle mitnehmen, doch da hatten wir uns geirrt; er wollte nur die beiden Frauen mitnehmen, meine deutsche Begleiterin und mich. Da wollte ich dann lieber noch etwas bei meinen Geschwistern bleiben, weil wir ja doch nicht alle mitfliegen konnten, aber der Entschluß des Piloten stand unumstößlich fest. Unser Flug sollte ganz abenteuerlich werden. Als wir starteten, konnte man überhaupt nichts mehr sehen. Nun war der Nebel, der in den frühen Morgenstunden etwas lichter geworden war, wieder ganz dicht. Der Pilot startete sozusagen blind. Sämtliche Versuche, eine Funkverbindung mit Kathmandu herzustellen, blieben vergeblich. Dem Pilot war sichtlich anzumerken, daß es ihm überhaupt nicht paßte, bei diesem Wetter zu fliegen. Er machte aus seinem Ärger kein Hehl und war im Gegensatz zum Kopiloten uns gegenüber sehr unfreundlich. Der Flug ging immer die Täler entlang. Ich dachte die ganze Zeit über, daß dies sicherlich die letzte Stunde meines Lebens sein würde. Jeden Augenblick konnte es einen großen Knall geben und die kleine Maschine irgendwo an einem Felsen zerschellen. Immer folgte der Pilot dem Flußlauf unten im Tale. Ich dachte schon, daß jetzt bald doch das Benzin ausgehen müßte. Doch schließlich landeten wir dennoch heil und unversehrt auf dem Flughafen in Kathmandu. Unten im Flußtal war nicht so viel Nebel gewesen wie oben hoch in der Luft. So konnte man gerade noch den Fluß unten erkennen. Diesem Umstand hatten wir es vermutlich zu verdanken, daß der Flug dennoch gut verlaufen war. Am nächsten Tag hat dann eine schweizer Maschine auf unser mehrmaliges Drängen hin auch die beiden anderen Deutschen in Phaphlu abgeholt.

Pokhara

Von Kathmandu aus machten wir in den nächsten Tagen einen Ausflug nach Pokhara. Dieser Flug ähnelte sehr dem Hinflug vor ein paar Tagen nach Yawa. Ich wurde jedenfalls von dem gleichen inneren Heimatgefühl befallen wie auf jenem Flug. Mir fiel auf, daß alle Stewardessen, obgleich es sich um Hindu-Frauen handelte, tibetisch gekleidet waren, und zwar nach der neuesten tibetischen Mode, was mich ein wenig überraschte. Von unserem Hotel in Pokhara aus machten wir noch am ersten Abend einen Ausflug zu einer Tibetersiedlung dort in der Nähe. Überall bimmelten Glöckchen. Die Tibeter mit ihren langen Zöpfen, die auf dem Kopf zusammengebunden waren, boten ein farbenprächtiges Bild. An ihren Ohren leuchteten Ohrringe, meist aus Gold und mit Türkisen besetzt. Sie trugen die traditionelle chuba, das tibetische Männergewand. Ehe wir zur eigentlichen Tibetersiedlung gelangten, mußten wir noch einen kleinen Fluß überqueren. Die Mönche des dortigen Klosters waren gerade mit Gebeten und rituellen Handlungen beschäftigt. Herrlich war es, endlich wieder die altvertrauten Klänge ihrer Musikinstrumente in meinen Ohren zu hören. Dieser Klang wurde durch die umliegenden steilen Berghänge noch um ein Vielfaches gesteigert. Viele Tibeter standen unterwegs am Wegesrand und boten uns in englischer Sprache zahlreiche Dinge zum Kauf an, meist Silberwaren verschiedenster Art oder handgeküpfte Teppiche. Direkt neben dem Kloster befand sich eine Fabrik. Hier war eine Reihe Frauen und Mädchen mit Weben beschäftigt. Während der Arbeit sangen sie religiöse Lieder. Sobald eine ein Lied anstimmte, fielen die anderen sofort wieder mit ein. Es war der reinste Chorgesang. Wir trafen hier unter den Tibetern aber auch einen amerikanischen Lehrer mit kahlgeschorenem Kopf. Er lebte seit längerem in Kathmandu und sprach Nepali wie seine Muttersprache. Er befand sich hier in Pokhara, um auf eigene Faust ein paar Bergtouren zu unternehmen.

Wir wußten gar nicht, wo wir zuerst hinschauen sollten, so viel Sehenswertes gab es hier auf einem Fleck, Es war daher nicht verwunderlich, daß wir schließlich von der hier urplötzlich hereinbrechenden Dunkelheit überrascht wurden. Die Folge war, daß wir uns in dieser wildfremden Gegend ein wenig veirrten und den richtigen Weg zum Hotel nicht sogleich fanden. Als wir endlich den Weg über den Fluß zurückgefunden hatten, war es unten im Tal schon stockfinster, während rundherum die höchsten Berggipfel in den letzten Strahlen der tiefstehenden Abendsonne glänzten, als wären sie mit einem Goldmantel überzogen. Die Sherpa nennen so etwas "Bärenmondschein". Es war ein ergreifender Anblick, der durch die krassen Gegensätze noch hinreißender wirkte. Wir sind in der Dunkelheit weitergehastet. Kurze Zeit später kam der Mond hinter den Berggipfeln hervor und beleuchtete wenigstens spärlich unseren Weg. Schließlich gelang es uns, in einem Haus am Wegesrand den Leuten nach einigem Überreden und für einen Preis von zehn Rupien die einzige verfügbare Öllampe abzukaufen, so daß die arme Familie anschließend im Dunkeln saß. Die mehr oder weniger großen Läden am Straßenrand wurden häufiger, und man kam sich fast vor wie in einem Basar. Hier herrschte noch viel Leben. So trafen wir auch ein paar junge Leute, die die Universität besucht hatten und leidlich Englisch sprachen. Sie waren hocherfreut, ihr Wissen an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Endlich und zuletzt sind wir dann doch heil und gesund, wenn auch vollkommen erschöpft, in unserem Hotel angekommen.

Am nächsten Tag kam ein hoher chinesischer Beamter zu Besuch nach Pokhara. Sein Erscheinen sorgte jedoch nur kurz für Aufruhr. Bald nahm das Leben wieder seinen gewohnten Lauf. Am Abend habe ich mit ein paar Iren, die ich im Hotel kennengelernt hatte, noch einen kurzen Spaziergang durch das Dorf – Pokhara war halt damals noch ein richtiges Dorf – gemacht. Dabei stießen wir auf einem Platz auf ein paar schon recht angetrunkene Männer. Sie tanzten zum Takt ihrer Trommeln und waren sehr lustig und ausgelassen und sangen irgendwelche Lieder, wobei es sich meist um Liebeslieder handelte.

Das Dorf Pokhara hat mir damals sehr gut gefallen. Daher war es nicht verwunderlich, daß ich auch am letzten Tag unseres dortigen Aufenthaltes wieder einen Spaziergang durch die Ortschaft machte. Unterwegs begegnete ich einer etwas seltsam anmutenden Gruppe. Vier Männer trugen eine Frau auf einer einfachen selbstgezimmerten Bahre. Sie waren auf diese Weise schon vier Tage unterwegs. Die Frau schrie und jammerte ununterbrochen. Sie war schwanger, und es waren Komplikationen eingetreten. Da man Angst hatte, sie müsse sterben, hatte man sich entschlossen, sie aus dem Gebirge hierher nach Pokhara ins Hospital zu schaffen. Die Frau klagte ständig über ihre starken Schmerzen. Die Männer schwitzten unter der schweren Last, die auf ihren Schultern ruhte.

Ein paar Schritte weiter lag ein toter Hund auf der Straße. Dieser hatte einen Menschen gebissen und war deshalb von den Leuten mit Steinen totgeschlagen worden. Der Kadaver stank schon abscheulich, doch fand sich niemand, der ihn beiseite geräumt hätte. Es war niemand zuständig.

Am Abend unterhielt ich mich mit einigen Gurung-Studenten. Sie klagten, daß sie nichts besäßen außer sich selbst. In der Nähe befand sich das Zeltlager einer Trekkinggruppe. Ich hörte, daß Mingma, ein alter bekannter aus Khumjung, unter den Sherpa sein sollte, und ging daher zu diesem Lager. Es standen dort eine Menge Zelte. Ich traf aber nur ein Mädchen an, das gerade Zwiebeln schälte. Sie sagte, Mingma sei unterwegs auf einer Bergexpedition. Also ging ich weiter. Am Fluß traf ich ein fröhliches junges Mädchen mit einem blonden Kind. Ich wunderte mich sehr, daß dieses europäische oder amerikanische Kind barfuß laufen durfte.

Am nächsten Tag sollte uns ein Flugzeug nach Kathmandu zurückbringen. Am Flughafen sah ich ein kleines Tibetermädchen, das im sandigen Boden kleine Pilze sammelte. Dann kam auch schon das Flugzeug. Es war eine größere Maschine, die viele Leute aufnehmen konnte. Unter diesen Leute waren auch einige mit gebrochenen und geschienten Armen, die sich gegenseitig mit "Grüß Gott" und "Bonjour" begrüßten. In Kathmandu blieben wir noch einige Tage; dann ging es über Delhi und Agra zurück nach Europa.

 Kolezhu!


Copyright © 1994, Lhakpa Doma Salaka-Binasa Sherpa