Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa
Hennef, Germany

Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994.


Nachbarvölker

Gurung

Ein junger Mann aus einer reichen Gurung-Familie war einmal mit seiner großen Schafherde auf den Almen in der Nähe des Womi Tso. Er hatte als Helfer Maila, einen Tamang aus unserem Dorf, bei sich. Es traf sich, daß auch zwei Gurung-Mädchen als Pilger oben zum See kamen. Die vier kamen miteinander ins Gespräch. Die Hirten hatten dort oben eine eigene Hütte, und sie gestatteten den Mädchen, dort zu übernachten.

Während sie abends auf ihren Reisstrohmatten am Feuer saßen, entwickelte sich ein Gesangswettstreit zwischen den Mädchen und dem Gurung-Mann; Maila dachte zunächst, die Angelegenheit sei nur ein Scherz. Die jungen Leute sangen die ganze Nacht hindurch. Immer wenn die eine Seite ein Lied beendet hatte, mußte die andere Seite mit einem anderen Lied darauf antworten. Zunächst sah es so aus, als würde der junge Mann das Wettsingen gewinnen. Doch irgendwann, als der Mond schon fast unterging, hatten die Mädchen noch immer einen großen Liedervorrat, während dem jungen Mann keine Lieder und auch keine Argumente mehr einfielen. Die Mädchen hatten den Wettbewerb und damit auch den Jungen als zukünftigen Ehemann gewonnen. Erst jetzt wurde Maila der Ernst des Wettstreits bewußt.

Der junge Mann mußte auf dem paril (Reisstrohmatte) des einen Mädchens Platz nehmen und wurde von diesem Mädchen, seiner zukünftigen Frau, gefüttert. Der junge Mann war totunglücklich und weinte herzzerreißend. Er mußte neben dem Mädchen schlafen, was ihm jedoch erst gegen Morgen gelang, als er endlich aufhörte zu weinen.

Am nächsten Tag nahmen die beiden Mädchen den jungen Mann einfach mit. Nach Sitte der Gurung hatten sie ihn rechtmäßig als Ehemann gewonnen. Der junge Mann war traurig, aber es blieb ihm nichts anderes übrig als mitzugehen. Er bat Maila, gut auf die Tiere aufzupassen. Er müsse jetzt leider gehen. Maila schaute ihnen nach, bis sie unten hinter einem Hügel verschwanden. Da erst wurde er sich der Situation so richtig bewußt. Rasch lief er hinter den Dreien her, ergriff seinen Arbeitgeber an der Hand und raubte ihn von den Mädchen zurück. Sein Argument war, daß er alleine mit den vielen Tieren nicht zurechtkommen würde. Offensichtlich ließ sich der junge Gurung gerne wieder zurückrauben.

Kami

Mit der Ausbreitung der Hindus nach der Einigung Nepals Ende des 18. Jahrhunderts über das gesamte Territorium des neuen Einheitsstaates drangen auch zunehmend Angehörige von Hindukasten in das damals noch auf Klanbasis autonom verwaltete Sherpa-Gebiet vor. Während sich die höheren Kasten der Brahmanen und Chetri lediglich in niedrigeren Höhenlagen ansiedelten, wo auch Reis angebaut werden konnte, der untrennbar mit der Hindu-Kultur verbunden ist, finden sich heute Angehörige der niederen Kasten weit verstreut auch in höheren Gebirgslagen.

Eine dieser nach Hinduvorstellung unberührbaren Kasten ist die der Kami, der Schmiede. Diese Schmiede bieten ihre Dienste auch der nicht-hinduistischen Bevölkerung an. Sie haben dabei meist mehrere Dörfer zu versorgen, was auch notwendig ist, da sie sonst nicht überleben können.

In meiner Kindheit und Jugend lebten im Umkreis unseres Dorfes drei bis vier Kami-Familien. Die Zahl schwankte etwas, da sich die Kami lediglich als Pächter niederließen und ihren Wohnort wechselten, wenn die Lebensgrundlage nicht mehr gesichert war. Sie erhielten dabei von den Sherpa keine bereits urbar gemachten Ackerflächen zugeteilt, sondern stets kleine, relativ minderwertige Brachlandflächen, die noch kultiviert werden mußten. Die Erträge waren meist so gering, daß sie nur einen kleinen Anteil des Bedarfs deckten. Auch durften sie keine Kühe halten. Das Problem war nämlich, daß sie kein Weiderecht für die Kühe besaßen. So hatten sie lediglich ein paar Hühner und Schweine, gelegentlich auch eine Ziege. Aber oft waren sie auch dazu aus finanziellen Gründen gar nicht in der Lage. Sie hielten jedenfalls nur Tiere, deren Fleisch sie auch essen durften.

In unserem Dorf lebte nur für kurze Zeit eine junge Kami-Familie. Das kleine Waldstück, das man ihnen am Dorfrand zugewiesen hatte, war so schattig, daß die beiden kleinen Kinder in der Bambushütte ständig froren. Außerdem war der Boden so lehmig, daß er keine Erträge brachte. Daher siedelten sie später ins Nachbardorf um, wo ihnen jemand ein winziges Fleckchen Land überließ. Wir haben von diesem Kami einmal ein kleines Silberschälchen herstellen lassen. Als Gegenleistung erhielt er etwas Mais und eine Kartoffelmahlzeit. Normalerweise baten die Handwerker darum, daß man ihnen auch noch etwas zu essen für die Familie mitgab. Nicht so jedoch unser Kami, was uns sehr verwunderte. Obwohl wir auch Kartoffeln für seine Familie mitgekocht hatten, ließ er diese liegen. Daher dachten wir, was das doch für ein feiner und netter Mann wäre, weil er nie klagte und jammerte. Als dann später im Frühjahr meine Mutter seiner Frau gegenüber lobend über deren Mann sprach, sagte diese: "Von wegen netter Mann! Ich und die Kinder müssen ständig hungern. Seit einer Woche ist er nun schon nicht mehr nach Hause gekommen, und die Kinder weinen." Irgendwann nach dem Monsun muß die Familie dann weggezogen sein. Wir haben sie nie wieder gesehen.

Neben der geringen Bezahlung für erbrachte Arbeiten gab es auch eine feste Regelung für das Dienstleistungsverhältnis. Zur Zeit der Ernte mußte jede Sherpa-Familie den Kami einen bestimmten Anteil an Naturalien überlassen. So durften sie z.B. von Kartoffeln oder Maiskolben so viel holen kommen, wie eine Person tragen konnte. Als Gegenleistung mußten sie für die Sherpa-Familie für die Dauer eines Jahres alle anfallenden Schmiedearbeiten erledigen. Daneben nahmen die Kami aber auch andere Arbeiten wahr wie das schon erwähnte Herstellen von Silberschälchen oder aber auch von Silberschmuck. Außerdem wurden sie von den Sherpa in der Hauptsaison als Hilfskräfte bei der Feldarbeit herangezogen. Solche Sonderdienste mußten natürlich dann auch gesondert bezahlt werden.

Meistens hatten wir ein Dienstleistungsverhältnis mit einer Kami-Familie aus Deku. Eines Tages kam dieser Kami einmal zu unserem Haus. Betreten dürfen die Kami die Sherpa-Häuser nicht, da auch die Sherpa, obgleich sie Buddhisten sind, die Kami als Unberührbare behandeln. Aber auch die Kami selber halten sich strikt an diese Regeln. Dies bedeutet, daß die Sherpa die Kami von vorne bis hinten bedienen müssen, wenn sie einmal zum Essen kommen. So streckte also auch unser Kami eines Tages den Kopf zum Fenster herein und klagte, er habe furchtbaren Hunger. Mutter sagte, sie hätte zur Zeit nichts Eßbares im Haus außer einem Rindfleischeintopf. Der Kami aber hatte solchen Hunger, daß er auch damit einverstanden war, obwohl ihm der Verzehr von Rindfleisch aus reliösen Gründen ja streng verboten war. Ausgerechnet als er dann gerade aß, kam ein anderer Kami aus Ringmo vorbei. Als dieser sah, daß der andere Rindfleisch aß, schimpfte er: "Wie kannst du deine eigene Mutter essen?" Und er schlug auf unseren Kami ein. Nachher sind dann beide davongelaufen, der eine heulend, der andere wütend.

Eines Tages wurde in Kundruk bei einer Tamang-Familie das Tihar-Fest gefeiert. Dabei trat auch eine kleine Kami-Gruppe auf, die mit Trommeln Musik machten und sangen und tanzten. Es gab in Öl gebackenes Maisbrot und Süßkartoffeln zu essen und natürlich reichlich chang und arak zu trinken. Zu meiner großen Verwunderung durften die Kami hier auch die Hütte der Tamang betreten. Unter den angeheiterten Gästen befand sich ein Bruder meiner Mutter. Zu fortgeschrittener Stunde vereinbarte er mit einem der anwesenden Kami, auf Brüderschaft zu trinken: "Hami dajyu bhai!" (nep. "Wir sind Brüder!) Und sie tranken abwechselnd aus einem Schälchen. Wir Kinder waren entsetzt, da man uns immer wieder eingeprägt hatte, daß die Kami Unberührbare wären, deren Speichelberührung unbedingt zu vermeiden wäre. So erwarteten wir jetzt, daß unser Onkel jeden Augenblick sterben oder total verblöden würde. Ich beobachtete ihn daher die ganze Zeit und dachte, seine Lippen müßten jeden Augenblick anschwellen, und er müßte nicht mehr sprechen und keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Aber nichts dergleichen geschah. Mein Onkel und der Kami wurden immer lustiger, fröhlicher und lauter und tanzten zusammen.

Jethi, eine Schmiedetochter

Jethi, eine Schmiedetochter aus Deku, erzählte mir einmal ihre Geschichte. Sie war von ihrem Stiefvater mit einem Kami aus einem Dorf irgendwo hinter Ringmo verheiratet worden. Vier Männer hatten sie zur Hütte ihres Angetrauten begleitet. Dort angekommen, forderten sie ihre Schwiegermutter auf, den Brautpreis zu zahlen. Die Schwiegermutter jedoch erklärte, ihr Stiefvater habe bereits zwei Flaschen arak (Branntwein) getrunken. Damit sei der Fall erledigt. Sie müsse nichts mehr zahlen.

Hierüber war Jethi sehr verärgert. Sie ließ sich dies jedoch nicht anmerken. Nicht umsonst war sie als die "schlaue Jethi" bekannt. Die Leute haben sie drei Tage und Nächte lang ständig bewacht. Sie konnte keinen Schritt alleine vor die Tür gehen. Am vierten Tag mußte sie zusammen mit einer Schwägerin im Wald Brennholz sammeln. Jethi ging gerne mit.

Im Wald angekommen, sprach sie zu ihrer Schwägerin: "Du sammelst hier und ich dort drüben!" Die Schwägerin dachte sich nichts dabei und willigte ein. Als Jethi sich ein Stück entfernt hatte und die Schwägerin gerade nicht herübersah, rannte Jethi so schnell sie nur konnte in Richtung Heimat davon.

Nach einiger Zeit bemerkte sie, daß ihr Mann mit einem seiner Brüder hinter ihr hergelaufen kam. Als sie oben in Takshindu an der Paßhöhe ankam, hatten die beiden Männer sie fast eingeholt. Doch auch hier wußte Jethi einen Rat. Sie nahm Steine, die auf allen Paßhöhen von den Passanten dort als Glücksbringer aufgestapelt waren, und warf sie in rascher Folge von oben auf die beiden Männer. Diese versuchten zunächst, in Deckung zu gehen. Als Jethi aber nicht aufhörte, Steine zu werfen, gaben die Männer schließlich auf und kehrten in ihr Dorf zurück.

Jethi aber ging zu ihrer Lehmhütte zurück und half wieder ihren Eltern bei der Arbeit. Manchmal kam sie auch zu uns zum Arbeiten, insbesondere zur Zeit der Kartoffelernte. Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu ihr und möchte sie als meine Freundin bezeichnen. Einmal waren meine Eltern zu Verwandten eingeladen. Jethi hatte bereits eine ganze Woche bei uns gearbeitet und machte sich auf den Heimweg. Als Arbeitslohn stand ihr ein Anteil an den geernteten Kartoffeln zu. Sie nahm so viele mit, wie sie nur tragen konnte. Mir war das egal. Die Kartoffeln faulten sowieso viel zu schnell.

Jethi heiratete später einen Kami aus Cherko, mit dem sie offensichtlich glücklich war. Die Kami halten eine kleine schwarze Schweineart. Einmal wollte Jethi uns etwas Schweinefleisch mitbringen, jedenfalls hatte sie uns das versprochen. Als sie zum Dasain-Fest bei uns vorbeikam, hatte sie ein kleines Päckchen bei sich. Wir dachten die ganze Zeit, das wäre wohl das Fleisch, und freuten uns bereits auf den Speck. Später stellte sich heraus, das in dem Päckchen lediglich Blumengirlanden waren. Das Fleisch hatte sie offensichtlich vergessen. Aber das hat uns auch nicht so viel ausgemacht.

Jethi hatte auch einen guten Ruf als Schamanin. Als einmal eine Tante krank war, wurde Jethi herbeigerufen. Damals war Jethi bereits hochschwanger. Für die Zeremonie wurde ein kleines weibliches Küken benötigt. Jethi baute einen kleinen Altar auf. Dann wurde das Küken mit einem durch die Nase gezogenen Faden an der Decke aufgehängt. Jethi begann mit ihrem wippenden Schamanentanz, wobei sie allerdings größere Probleme wegen ihrer Schwangerschaft hatte. Das Küken sollte mittanzen, d.h. mit den Flügeln flattern. Zunächst wollte es gar nicht. Prompt ging es meiner Tante wieder schlechter, weil das nämlich ein schlechtes Omen ist. Schließlich fing das Tierchen aber doch an zu tanzen, und der Tante ging es besser.

Nach mehreren Tanzrunden um die Kranke und den Vogel fiel Jethi in Trance. Sie sprach nun eine Menge Worte in einer Geheimsprache, die nur ihr Assistent verstand. Dieser übersetzte, was die Ursache der Krankheit war und wie sie zu heilen wäre. Als Jethi später aus der Trance erwachte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Irgendwann wurde es sehr neblig. Es war spät am Abend, und die Füchse heulten sehr laut. Da wußten alle, daß die Seele der Tante schon das Haus verlassen hatte. Sie war doch gestorben.

Vertreibung

In unserem Dorf lebten auch einige Tamang als Pächter. Es war den Tamang nicht möglich, Land in den Sherpa-Dörfern zu erwerben. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu den Tamang-Nachbarn. Mir haben diese armen Leute stets leid getan. Sie führten ein recht armseliges Leben. Die Sherpa, denen das Land gehörte, machten mit ihren Tamang-Pächtern einen Preis aus, d.h. eine bestimmte Getreidemenge, die als Pacht gezahlt werden mußte. Doch das Land, das ihnen die Sherpa zur Verfügung stellten, gab meist nicht viel her. Die besseren Böden wurden von den Sherpa selbst beackert. Außerdem wußte man nie, wie die Ernte ausfallen würde; die Pacht aber blieb unverändert. Wenn die Tamang ihre Pacht abgeliefert hatten, blieb meist nicht mehr viel übrig. Neben der Arbeit auf ihren Feldern mußten sie sich daher als Tagelöhner,Träger oder Holzhacker bei den Sherpa verdingen. Wurde das alles unerträglich, konnten die Tamang nur noch weglaufen. Aber wo sollten sie hinlaufen? Land besaßen sie ja nicht.

Eine Tamang-Familie vom Klan der Dokshere lebte glücklich und zufrieden als Pächter auf dem Grundstück einer Sherpa-Familie in Shiteling. Sie wohnte da bereits, solange ich mich zurückerinnern konnte. Alle ihre Kinder müssen dort geboren worden sein. Sie sprachen neben ihrer Muttersprache auch die Sherpa-Sprache. Die älteste Tochter war als Nonne in das Sherpa-Kloster von Takshindu eingetreten und hatte dort ihre Prüfung erfolgreich abgelegt. Der Vater der Familie war der thawo (Freund, nep. mit) unseres Vaters. Er feierte ähnlich wie mein Großvater sein Totenfest bereits zu Lebzeiten. Wir hatten einen sehr guten Kontakt zu der Familie. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß wir als Kinder die Mönche mit Wasser naßgespritzt haben.

Einmal ging ich spät am Abend mit Mutter zu diesem Tamang-Haus, um Töpfe für die Herstellung von arak (Schnaps) zu leihen. Die Kinder schliefen bereits, aber dennoch bekamen wir etwas kud (in Öl gebackene Hörnchen aus Maismehl) zu essen. Im Haus schliefen eine Tochter und der Sohn mit seiner jungen Frau, die den Arm um ihren Mann gelegt hatte. Es war ein glückliches Bild, wie alle dort lagen und schnarchten.

Doch das Glück des jungen Paares währte nicht lange. Der junge Mann ging eines Tages für zwei bis drei Jahre nach Indien. In dieser Zeit begab sich seine schwangere Frau zu ihrer Familie. Später, die kleine Tochter konnte bereits sitzen, unterhielt ich mich mit ihr. Sie sagte, ihr Mann habe eine andere Frau gefunden; er komme nicht mehr zurück. Die Familie ihres Mannes wollte sie trotzdem bei sich aufnehmen, doch die junge Frau zog es vor, bei ihren Eltern zu bleiben.

Die Tamang-Familie besaß ein Lieblingskalb. Dieses Kalb ließen sie eines Tages auf der Dorfweide grasen, obgleich die Sperrung der Weide noch nicht beendet war. Alljährlich wurde die Weide nämlich für ein halbes Jahr geschlossen. Solange der Pfahl mit dem an einer Leine befestigten Stein dort stand, durfte niemand die Weide betreten. Offensichtlich nahm aber niemand aus dem Dorf Anstoß daran, daß das Kalb in der Sperrzeit dort weidete. An einem Wintertag aber, als die Tamang-Familie den Mais von den Kolben getrennt hatte, gingen sechs Männer aus dem Dorf, je drei von ihnen waren Brüder, zum Haus der Tamang-Familie, um sie für das Vergehen zu bestrafen. Die Tamang mußten ihre gesamte Maisernte, ungefähr 10 muri (1 muri = ca. 87 l) abliefern. Der Vater der Familie muß sich wortlos dem Druck gebeugt und die gesamte Ernte herausgegeben haben. Als gerade die letzten Reste des Mais übergeben wurden, kam die älteste Tochter, die Nonne aus Takshindu. Als sie hörte, was geschehen war, nahm sie einen Besen und schlug damit auf den letzten der sechs Sherpa ein. Wir haben damals nicht gewußt, was diese Leute der Tamang-Familie antaten. Sicherlich hätten viele Leute im Dorf diese Tat nicht unterstützt.

Später, im Frühling, verließ die Tamang-Familie dann unser Dorf. Sie trugen ihre gesamten Habseligkeiten auf dem Rücken. Der Vater blickte wortlos zu Boden. Er war nicht gut auf unseren Vater zu sprechen, dem er vorhielt, er habe ihm nicht geholfen. Aber mein Vater hatte ja gar nicht gewußt, was die Leute machten; außerdem hätte er alleine ohnehin nichts ausrichten können. Die Frau verabschiedete sich jedoch von meiner Mutter, die eine gute Freundin von ihr geworden war. Dann gingen die Tamang fort. Wir haben sie nie wieder gesehen. Ich sagte zu den Eltern, wir sollten auch fortgehen. Mutter schimpfte mit mir, ich solle so etwas nicht sagen, weil es sonst wirklich geschehen würde.

Als ich 1977 wieder einmal in mein Dorf kam, lebte der zweitälteste Sohn der Familie wieder an der gleichen Stelle, von der seine Eltern weggezogen waren. Zwischenzeitlich waren aber auch andere Tamang-Familien aus dem Dorf vertrieben worden, so auch die Pächter meines Großvaters und meines Vaters. Sie waren von den gleichen Leuten, die auch damals die Tamang-Familie vertrieben hatten, bei der Polizei angezeigt worden, weil sie Papier hergestellt hatten. Während aber 1977 noch eine ganze Reihe von Tamang-Pächtern im Dorf lebten, trifft man heute keinen einzigen mehr an. Ich vermisse meine verlorenen Freunde und guten Nachbarn sehr.

Tamang

In unserem Dorf lebte einmal eine Tamang-Familie vom Klan der Mukthum als Pächter. Die Mutter der Familie war gelähmt und konnte sich nicht alleine fortbewegen, nicht einmal zur Erledigung ihrer Notdurft. Die mußte daher immer von ihrem Ehemann entsorgt werden. Obwohl dies ja eine sehr unangenehme Arbeit war, versuchte er stets, die Sache von der leichten Seite zu nehmen. So tanzte und sang er meist, wenn er den Topf nach draußen brachte. Er war wirklich ein sehr guter Mann, der alles für seine Frau tat. Das gleiche konnte man auch von ihren beiden Söhnen und der Schwiegertochter, der Frau des älteren Sohnes, sagen. Die Leute hatten auch noch eine Tochter, die in einem anderen Dorf verheiratet war. Diese Tochter hatte wiederum eine Tochter, die bei den Großeltern lebte. Sie hörte auf den schönen Namen Bun Maya.

Dennoch geschah es eines Tages, daß der Vater Streit mit seiner Frau bekam. Er verließ das Haus, ohne sich auch nur einmal wieder umzusehen, und ging zu seiner Tochter, die wie gesagt in einem anderen Dorf wohnte. Seine Frau kroch auf allen Vieren hinter ihm her und rief: "Komm zurück, Babu!" Es war das erste Mal, daß wir die Frau außerhalb ihres Hauses sahen. Ihr Mann ging jedoch weiter, als habe er nichts gehört. Als er hinter dem Hügel verschwand, weinte und schluchzte sie. Der Rückweg zum Haus fiel ihr nun besonders schwer, zumal sie wohl ihre letzten Kräfte verbraucht hatte, als sie hinter ihrem Mann herkroch. Sie griff sich mit beiden Händen an den Kopf und wollte einfach nicht wahr haben, daß ihr Mann sie verlassen hatte.

Aber zum Glück waren ja die beiden Söhne und das Enkelkind, Bun Maya, noch da. Die Leute im Dorf glaubten nun auf einmal zu wissen, daß sie eine schlechte Frau war. So hieß es, ihr Mann sei weggegangen, weil sie eine zankige Frau sei. Aber nach zwei Monaten kam ihr Mann dann plötzlich wieder zurück. Er war fröhlich gelaunt wie immer, als ob nichts geschehen wäre. Von dieser Zeit an ist er immer zu Hause geblieben, bis seine Frau gestorben ist.

Der älteste Sohn lieh bei seinem Sherpa-Arbeitgeber ein Silberschälchen für die Totenzeremonien seiner Mutter. Dieses Schälchen wurde kurz darauf von einem Sherpa gestohlen, was dazu führte, daß die Familie, die ja sowieso nichts hatte, ständig nur für andere Leute arbeiten mußte, um die Schulden abzutragen.

Die zornigen Verwandten

Ich kann mich an eine Tamang-Hochzeit erinnern, die mich als Kind unwahrscheinlich fasziniert hat, obgleich ich das ganze Theater nicht so ganz verstanden habe. Ein Tamang-Junge und ein Tamang-Mädchen waren von ihren Eltern noch im Kindesalter verheiratet worden. Als das große Hochzeitsfest gefeiert werden sollte, zog die Verwandtschaft des Mädchens zum Haus der Eltern des Jungen.

Letztere wußten natürlich genau, was jetzt ablaufen würde. Daher versteckten sie das junge Paar weit oben am Hang, noch oberhalb von unserem Dorf, in einem großen hohlen Baumstamm. Von dort schauten sie ängstlich nach unten und beobachteten, was sich dort abspielte.

Als die Verwandtschaft des Mädchens ankam, begannen sie sogleich mit einem Höllenspektakel. Es wurde in allen Tonarten geschimpft. Steine flogen und Dachschindeln. Aber man achtete offensichtlich tunlichst darauf, daß niemand getroffen, sondern alle immer ganz knapp verfehlt wurden. Derweil war die Familie des Jungen noch immer voll mit der Vorbereitung des Hochzeitsessens beschäftigt. Ein Bock war geschlachtet worden.

Als dann schließlich alle gegessen und getrunken hatten, war aller Streit auf einmal völlig vergessen. Alle unterhielten sich in friedlicher Eintracht.

Das Mädchen Tsamji

Bei den zahlreichen Bevölkerungsgruppen Nepals gibt es unterschiedliche Brauchtümer, nach denen eine Ehe angebahnt wird. Hierzu gehört u.a. auch die Sitte des Mädchenraubs, die auch bei den Sherpa nicht unbekannt ist. Insbesondere wenn ein Mädchen von dem Mann, dem es versprochen und mit dem es verheiratet worden ist, sitzengelassen wird, sucht der Vater des Mädchens einen anderen jungen Mann als Ehemann aus und fordert diesen zum Raub des Mädchens auf, damit dessen Ehre gerettet wird. Hochzeitszeremonien werden nicht mehr durchgeführt. Die Hochzeit geht ohne Aufhebens über die Bühne.

Bei einigen Nachbarvölkerschaften der Sherpa stellt der Mädchenraub aber eine durchaus übliche Form der Eheanbahnung dar. In unserem Dorf lebte eine Tamang-Familie, deren Vater mit unserem gut befreundet war, d.h. er war ein thawo (besonderer Freund, nep. mit) unseres Vaters. Wir nannten ihn daher auch "Vater". Diese Tamang-Familie hatte am benachbarten Berghang eine Hütte mit ein paar Kühen. Ihre zweitälteste Tochter, Tsamji, ein Mädchen von etwa 17 oder 18 Jahren, war mit der Betreuung der Tiere beauftragt. Sie wohnte daher die ganze Zeit alleine mit den Tieren in dieser Hütte.

Eines Tages drang von dieser Hütte ein großer Lärm zu unserem Dorf herüber. Das Mädchen schrie offensichtlich in panischer Angst nach ihren Eltern. Diese dachten zunächst, ihre Tochter würde von irgendwelchen wilden Tieren bedroht. Dann aber hörten sie auch Männerstimmen. Sie erkannten aus der Ferne, daß es sich um fünf Männer handelte. Der jüngste von ihnen war weiß gekleidet und trug eine Art weißen Turban, die typische Bräutigamkleidung.

Jetzt wurde den Leuten bewußt, daß ihre Tochter zwecks Heirat geraubt werden sollte. Eilig rannten sie den Hang hinunter hinter der Gruppe her. Die ältere Schwester und der ältere Bruder von Tsamji schlossen sich ihnen an. Da Tsamji enorm stark war und ständig versuchte, sich an Bäumen festzuklammern, kamen die Brauträuber nur sehr langsam voran. Wiederholt versuchten sie, den Widerstand des Mädchens zu brechen, indem sie sie gewaltsam fortzerrten und sie hin und wieder in Brennesseln warfen. "Raji ki biraji" (ja oder nein), fragten sie das Mädchen, und immer wenn es "nein" sagte, wurde es wieder in die Brennesseln gestoßen.

Unten im Tal hinter der Flußbiegung holte die Familie des Mädchens die Gruppe ein. Unter einem nie enden wollenden Schwall übelster Schimpfworte stürzten sich die vier auf die fremden Männer. Es kam zu einer wüsten Prügelei. Steine flogen durch die Luft, und es hagelte Stockschläge. Die Familie von Tsamji erwies sich am Ende als die stärkere Seite. Die Männer machten sich aus dem Staub, und die Familie kehrte mit ihrer Tochter nach Hause zurück. Das Mädchen hatte offensichtlich einen schweren Schock erlitten. Heulend und am ganzen Körper zerschunden kam sie wieder im Dorf an. Sie blieb noch einige Tage im Elternhaus. Doch auch danach wollte sie nicht mehr alleine das Vieh hüten, sondern mußte von ihrem Bruder begleitet werden.

Rai

Unterhalb von unserem Dorf liegen auch einige Rai-Dörfer. Es besteht allgemein ein sehr gutes Verhältnis zwischen den Sherpa und den Rai. Ganz besonders aber galt das für meinen Vater, der sich oft wochenlang in den Rai-Dörfern aufhielt. Er hatte nämlich in drei Rai-Dörfern mit (Freunde) wohnen.

Die Praxis des Brautraubs ist bei den Rai weit verbreitet. In einem der benachbarten Rai-Dörfer lebte einmal ein hübsches Mädchen im heiratsfähigen Alter. Es schlief des Nachts gewöhnlich in der Scheune, um die Tiere zu hüten. Einmal aber hatte es ausnahmsweise mit seiner Großmutter getauscht, d.h. diese schlief in der Scheune und das Mädchen im Haus.

Ausgerechnet diese Nacht hatten sich die Brauträuber ausgesucht, um das junge Mädchen zu rauben. Sie kamen beim Mondschein in die Scheune und zerrten das vermeintliche Mädchen, das ja in Wirklichkeit die Großmutter war, heraus. Diese schrie und jammerte, sie sei doch die Großmutter, doch die Männer ließen sich hierdurch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie dachten, das Mädchen wolle ihnen etwas vormachen, um nicht geraubt zu werden. Bei der Dunkelheit konnten sie natürlich nicht sehen, daß es tatsächlich die Großmutter war, die sie da mit sich davonzerrten.

Am nächsten Tag wunderte sich die Familie, wo denn die Großmutter geblieben sei. Doch da kam sie auch schon angehumpelt. Sie hatte überall blaue Flecken und Schrammen und klagte über Schmerzen. Natürlich hatten die Männer beim Tageslicht ihren Irrtum bemerkt und die Großmutter wieder laufenlassen. Schließlich wollte keiner von ihnen die alte Frau heiraten und Kinder mit ihr zeugen.

Wir haben damals sehr darüber gelacht, wie töricht doch die Räuber waren, daß sie der alten Frau nicht geglaubt hatten. Wir überlegten aber auch, woher die Männer denn überhaupt wußten, daß das Mädchen in der Scheune zu schlafen pflegte. Offensichtlich gab es im Dorf einen Verräter, der ihnen das mitgeteilt hatte, vielleicht auch, wenn er einen über den Durst getrunken hatte.

Man erzählte uns, bei einer richtigen Rai-Hochzeit müsse die Familie des Bräutigams der Familie der Braut sieben Töpfe bringen, was natürlich eine recht kostspielige Angelegenheit war. Einmal sahen wir von unserem Haus aus unten im Rai-Dorf eine lange Lichterkette. Diese Laternen wurden angebracht, so sagte man uns, um dem Brautpaar den Weg zu leuchten. Es kamen zunächst aus der Familie des Bräutigams zwei Männer mit weißen Turbanen auf dem Kopf und hielten eine Rede. Danach folgten vier weitere Männer, ebenfalls mit weißen Turbanen, die in einer Sänfte den Bräutigam herbeitrugen.

Auch dazu erzählte man uns eine Anekdote. Ein weiser Mann hatte einmal einem jungen Mann prophezeit, er werde an seinem Hochzeitstag von einem tak (Tiger) gefressen. Der junge Mann jedoch lachte nur darüber und sagte, das könne doch wohl nicht sein, weil er am Hochzeitstag in einer Sänfte getragen würde. Als der Hochzeitstag kam, erzählte er seiner Braut von dieser Weissagung. Diese wollte unbedingt wissen, wie ein tak aussehe. Daher zeichnete der junge Mann das Bild eines tak auf ein Blatt Papier. Da wurde das Bild lebendig. Der tak riß sein Maul auf und verschlang den jungen Mann. Man soll halt nicht so neugierig sein, weil das sonst Unglück bringt.

Einmal war ich mit meinem Vater in einem Rai-Dorf. Dort trafen wir einen mit meines Vaters, der fließend die Sherpa-Sprache sprach. Er hatte einmal in Taljangma bei einer Sherpa-Familie gearbeitet. Jener Sherpa hatte 25 Jahre als Gurkha-Söldner gedient. Er war damals der einzige Sherpa, der eine Pension erhielt, und war daher sehr wohlhabend. Er war schon ein alter Mann, der nicht mehr richtig laufen konnte. Um seine Pension abzuholen, mußte er jedoch immer nach Okhaldhunga laufen. Eine Frau aus Taljangma, die aus unserem Dorf stammte, hatte damals immer mit unserem Rai-Freund geschimpft, so erzählte er uns jedenfalls. Ich habe mich sehr darüber geschämt.

Der Rai hatte spät geheiratet. Er war aber nun relativ wohlhabend. Er besaß u.a. einen Apfelbaum, einen Bienenstock, einige Tiere, einen Hund, eine Frau und einen Sohn. Einmal sind wir, d.h. mein Vater, sein Rai-mit, dessen Sohn und ich, in der Nähe des Rai-Dorfes Grünfutter holen gegangen. Der Junge, er mochte vielleicht 10 oder 11 Jahre alt sein, rief immer "halalo, halalo" oder so ähnlich. Ich fragte seinen Vater, was sein Sohn denn da ständig schreien würde. Der Vater erklärte mir, sein Sohn riefe, sein kleiner Schwanz sei steif. Er wußte natürlich nicht, daß ich ein Mädchen war, da mein Vater mich immer als seinen Sohn ausgab und ich einen geschorenen Kopf hatte und die alten Lumpen meines Bruders trug. Als es dann sogar hieß, ich solle der mit des Rai-Jungen werden, habe ich dann ganz einfach geschwiegen.

Wir tauschten Bambusmatten gegen Naturalien. Die Rai, in deren Dörfern es viel wärmer war als bei uns, hatten viel Obst. Auch das Zuckerrohr habe ich sehr gemocht. Nachdem unsere Tauschgeschäfte erledigt waren und wir noch zu Mittag gegessen hatten, gingen Vater und ich wieder zu unserem Dorf zurück.

Tibetische Flüchtlinge

Nach der Besetzung Tibets durch die Chinesen im Jahre 1959 sahen sich viele Tibeter zur Flucht über den hohen Himalaya nach Indien und Nepal veranlaßt. So kamen damals auch viele Menschen über den 5716 m hohen Paß Nangpa La, den bereits die Urahnen der Sherpa vor rund 450 Jahren bei ihrer Einreise nach Nepal benutzt hatten, nach Khumbu. Zeitweise kamen die Flüchtlinge in ganz großen Gruppen. Mit sich brachten diese Menschen, soviel ihre Lasttiere tragen konnten: Wolldecken, Kleidung, Schmuck, Töpfe, Geschirr, heilige Texte, Kultgegenstände usw. Viele hatten auch Ziegen- und Schafherden bei sich. Die Tiere waren bunt geschmückt oder mit Farbstreifen bemalt. Die Hörner der Yaks und Yakkreuzungen waren mit Gebetsfahnen geschmückt.

Für uns Kinder waren diese Karawanen ein ganz besonderes Ereignis. Das Echo der Lieder, welche die Flüchtlinge ständig sangen, hallte die Täler und Berghänge entlang. Man konnte sie schon von weitem hören. Wenn sie in Sherpadörfer kamen, gingen sie betend von Haus zu Haus und bettelten um etwas Getreide oder etwas zu essen. Die Sherpa gaben immer, wenn die tibetischen Flüchtlinge beteten; kamen sie aber nur betteln, ohne zu beten, gaben sie nichts. In den Dörfern entlang des Hauptweges konnte die große Zahl der Flüchtlinge schon zur Last werden. Dennoch waren wir geschockt, als uns unser Vater erzählte, in einem Rai-Dorf am gegenüberliegenden Berghang hätten die Leute den vorbeiziehenden Tibetern zwar eine Handvoll Mais gegeben, sie dann aber anschließend beschimpft und mit Dreck beworfen und bespuckt.

Wir Kinder waren immer erstaunt, daß die tibetischen Flüchtlinge so dick angezogen waren. Oft trugen sie trotz der Frühjahrshitze mehrere Kleidungsstücke übereinander. Dies mochte damit zusammenhängen, daß das Klima in Tibet wesentlich kälter war als bei uns an der Südabdachung des Himalaya. Andererseits werden die Leute aber auch versucht haben, soviele Kleidungsstücke wie möglich mitzunehmen. Dennoch fiel uns auf, daß viele Flüchtlinge ziemlich unter dem heißen Klima zu leiden hatten.

Doch sie hatten auch noch andere Probleme. So gab es immer wieder Verständigungsschwierigkeiten. Zwar ist die Sherpa-Sprache ein tibetischer Dialekt, doch hat sich dieser in den 450 Jahren ihrer Anwesenheit in Nepal eigenständig weiterentwickelt. Problemlos verlief der Dialog meist nur mit den Sherpa-Mönchen und -Nonnen in den Klöstern, die natürlich auch der tibetischen Sprache mächtig waren. Noch größere Verständigungsprobleme aber hatten die tibetischen Flüchtlinge mit den Angehörigen anderer nepalischer Bevölkerungsgruppen. Oft half hier nur die Zeichensprache.

Die Tibeter waren für uns in mancher Hinsicht beeindruckend. Für uns Kinder, aber auch für die Frauen, war es etwas Neues, Männer mit langen Zöpfen und großen steinbesetzten Ohrringen, meist nur an einem Ohr, zu sehen. Sherpa-Männer hatten meist fast kahlgeschorene Köpfe, und das Tragen von Ohrringen kannten wir nur von den Rai. Auch der zahlreiche Gold- und Türkisschmuck und die Kleidung der tibetischen Frauen interessierte die Sherpa-Frauen sehr. Häufig kam es daher zu Tauschaktionen zwischen der Sherpa und den Tibetern.

Wann immer die Flüchtlinge irgendwo Rast machten, waren sie niemals untätig. Viele waren ständig mit der Verarbeitung von Wolle beschäftigt, schoren die Tiere oder kümmerten sich um das Essen. Es war erstaunlich, mit wie wenig Holz die Tibeter in der Lage waren, ihr Essen zu kochen. Sie machten ein kleines Loch in die Erde, kaum größer als ihr Kochtopf. Dann warfen sie etwas Reisig hinein und zündeten es an. Wir Sherpa gingen da wesentlich verschwenderischer mit dem Feuerholz um. Uns reichte kein Reisig, oft mußten ganze Bäume daran glauben.

Und noch etwas hat mich damals tief beeindruckt. Obwohl diese Menschen in einer sehr mißlichen Lage waren und Heimat, Gut und oft Anverwandte verloren hatten, habe ich niemals Tibeter weinen sehen. Ganz offensichtlich hatten die Menschen ihren Überlebenswillen und ihre Zuversicht nicht verloren. Vielleicht hatten ihnen auch ihre zahlreichen laut vorgetragenen Lieder und Gebete dabei geholfen.

Einmal kam auch eine tibetische Tanzgruppe in unser Dorf. Die Gruppe bestand aus gut gekleideten und wohl geschmückten Mädchen und jungen Männern. So etwas hatten wir bis dahin noch nicht erlebt. Das war schon eine kleine Sensation. Viele der heranwachsenden jungen Leute im Dorf bedauerten nicht nur wegen der Tanzvorführungen, daß die Gruppe nach kurzer Zeit weiterzog.

Einige der tibetischen Flüchtlinge ließen sich gleich oben in Khumbu oder in Pharak nieder. Die meisten aber zogen weiter durch Shorong in Richtung Kathmandu, von wo aus einige in die Schweiz weiterfliegen konnten. In Shorong wurde ein großes Flüchtlingslager für die Tibeter in Chalsa eröffnet, das noch heute besteht. So bauten sich viele Flüchtlinge in Shorong eine neue Existenz auf.

Dabei gab es auch Einzelgänger. Ein tibetischer Hirte hatte sich auf seiner Flucht in einer Höhle in der Nähe eines Ortes am gegenüberliegenden Berghang niedergelassen. Dort lebte er einige Jahre zusammen mit seinen Schafen und Ziegen. Die ortsansässigen Leute wunderten sich sehr über den Fleiß und die Genügsamkeit dieses Mannes. Er verarbeitete die Wolle, die Milch und das Fleisch seiner Tiere selbst und tauschte diese Produkte auch an die Sherpa gegen Getreide. Auch wir hätten ihm gerne eine seiner sehr gut verarbeiteten Decken eingetauscht – Geldhandel war damals noch fast unbekannt –, doch hatten wir leider nicht mehr genügend Getreide, als er bei uns vorbeikam.

Unter den tibetischen Flüchtlingen war auch eine Reihe hoher Lamas. Der bekannteste tibetische Lama, der sich in Shorong niedergelassen hat, war Tulshig Rimpoche, der im Kloster Tubden Choling, in der Nähe von Jung, lebt. Als ein hoher Lama einmal im Kloster oberhalb unseres Dorfes zu Gast war, sind wir alle hingegangen, um uns seinen Segen zu holen. Ein wohlhabender Mönch – er betätigte sich häufig als Geldverleiher – hatte ihn eingeladen. Als er in dessen Haus kam, schaute er sich zunächst in aller Ruhe um, betrachtete die Räumlichkeiten und insbesondere die Bibliothek. Dann erst ließ er sich auf seinem Teppich nieder. Der hohe Lama sagte, man solle ihm einen Mann vorführen, der ein weißes Kleid aus Schafswolle anhätte. Diesem wolle er dann etwas mitteilen. Es ergab sich, daß lediglich der Dorftrottel ein derartiges Gewand besaß; also führte man diesen zum hohen Lama, nachdem man ihn noch besonders zurechtgemacht und ihm ein Brokatkleid darunter angezogen hatte. Der hohe Lama betrachtete den Mann von oben bis unten. Er erkannte wohl, daß dies nicht der geeignete Mensch war und sagte nichts. Zu meiner Cousine aber sagte er einmal, sie habe einen ganz schlechten Charakter, während ein Mädchen in ihrer Begleitung einen guten Charakter habe. Mit dieser Aussage lag er gar nicht so falsch.

Wenn auch das Leid der tibetischen Flüchtlinge insgesamt sehr groß war, so ist mir doch ein Schicksal immer besonders in Erinnerung geblieben. Im Frühjahr hatte mein Vater einen kleinen tibetischen Jungen von vielleicht sechs Jahren irgendwo im Gestrüpp auf unserem Grundstück gefunden. Das Kind war dort offensichtlich vor Erschöpfung eingeschlafen. Mein Vater hatte Mitleid und brachte den Junge mit zu uns nach Hause. Für etwa einen Monat ist er unser Gast gewesen. Er hat bei uns geschlafen und tagsüber uns Kindern bei unseren üblichen Tätigkeiten wie Viehhüten, Brennholz- und Wasserholen geholfen. Uns fiel auf, daß der Junge sehr schreckhaft war; bei jedem plötzlichen Geräusch zuckte er zusammen. Als einmal ein Erwachsener aus Jux einen lauten Schrei ausstieß, lief er Hals über Kopf davon. Wir haben ihn nicht mehr gesehen. Andere Leute haben dann erzählt, sie hätten ihn auf unserem Feld gesehen, wie er rohe Erbsen und Roggen gegessen habe. Obwohl wir ihn dann dort gesucht haben, konnten wir ihn nicht mehr finden. Verhungert ist er damals sicherlich nicht, da es auch in der freien Natur überall genug zu essen gab. Außerdem ließen die Sherpa mit Sicherheit kein Kind verhungern, wenn es etwas mit anfaßte. Ich wüßte dennoch zu gerne, was aus diesem Jungen geworden ist.

Anscheinend hatten die Chinesen bei ihren Attacken gegen die tibetische Bevölkerung auch Pferde eingesetzt. Jedenfalls geschah es einmal, daß ein wohlhabender Tibeter auf einem Pferd zum Markt nach Dorphu ritt. Ein anderer Tibeter hielt ihn offensichtlich für einen Chinesen, zückte sein langes thi (Messer, Dolch) und stach damit auf die Beine des Reiters ein. Andere Leute mußten dem Mann zu Hilfe kommen. Dennoch hatte dieser Verständnis für den Angreifer, als sich herausstellte, daß er aufgrund seiner Erfahrungen aus Tibet unter einer Art von Verfolgungswahn litt.


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